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Agent 6

Titel: Agent 6
Autoren: Tom Rob Smith
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schönes Risiko damit ein hierherzukommen. Ich könnte Sie mit einem einzigen Anruf aus dem Land werfen lassen.
    Während Nara übersetzte, flehte sie Leo mit den Augen an zu gehen. Yates bemerkte sofort, dass die beiden uneins waren, und fügte hastig hinzu:
    – Verstehen Sie mich nicht falsch. Das werde ich nicht machen. Ich bekomme nicht oft Besuch, schon gar keinen, mit dem ich über interessante Themen sprechen könnte.
    Er war einsam. Er war eitel. Und er war stolz. Wie ein Vernehmungsbeamter wog Leo diese Charakterzüge ab und versuchte einzuschätzen, ob dieser Mann reden würde und welche Art von Druck er wohl ausüben musste. Die Kombination von Schwächen war vielversprechend. Yates hatte viele Jahre lang geschwiegen. Er war verbittert. Dass man die Wahrheit aus der Geschichtsschreibung getilgt hatte, war Yates genauso wenig recht wie Leo. Er wollte seine Geschichte erzählen. Er wollte reden. Leo musste ihm nur schmeicheln.
    Yates ließ sich so entspannt in seinen bequemen Sessel sinken, als wollte er sich eine Sportübertragung im Fernsehen ansehen.
    – Sie sind also zum Feind übergelaufen? Scheint nichts Ungewöhnliches für einen Kommunisten zu sein. Meiner Erfahrung nach verraten alle Kommunisten irgendwann ihr Land. Ihr Roten könnt nicht lange treu bleiben. Für mich ist Loyalität eine wichtige Tugend. Bestimmt haben die USA die treuesten Bürger der Welt, und das ist einer der Gründe, warum wir den Kalten Krieg gewinnen werden. Nehmen Sie zum Beispiel mich: Ich habe mich um meine Frau gekümmert, bis sie gestorben ist, als sie mich schon lange nicht mehr geliebt hat. Es war egal, dass sie mich nicht liebte. Es war auch egal, dass ich sie nicht liebte. Ich habe sie nicht verlassen. Ich wusste genau, was sie braucht. Das ganze Haus habe ich auf ihre Bedürfnisse abgestimmt. Und ich wusste, was mein Land braucht, auch wenn manche Leute das nicht einsehen wollen – es braucht Kraft und Stärke, um seine Feinde zu besiegen. Ich habe ihm Kraft gegeben. Ohne je einen Kompromiss einzugehen. Ich habe mit harten Bandagen gekämpft. Ich habe getan, was nötig war, und das würde ich wieder tun.
    Leo hörte zu, während Nara übersetzte. Bevor sie ausgesprochen hatte, unterbrach Yates:
    – Wollen Sie mich umbringen?
    Leo verstand die englische Frage. Bevor er antworten konnte, lachte Yates.
    – Nicht so schüchtern!
    Leo antwortete mit einem Satz, den er eingeübt hatte.
    – Ich will wissen, wer meine Frau getötet hat.
    – Um diejenigen zu töten? Das sehe ich in Ihren Augen. Sie und ich, wir sind gar nicht so verschieden – wir tun beide, was nötig ist.
    Yates griff in seine Tasche, holte einen kleinen Revolver heraus und legte ihn auf die Sessellehne. Er beobachtete Leos Reaktion auf die Waffe aufmerksam, dann sprach er weiter, als wäre sie gar nicht vorhanden.
    – Sie sind weit gereist, deshalb will ich Ihnen helfen, so gut ich kann. Wer Ihre Frau getötet hat? Wer Ihre hübsche, russische Frau getötet hat? Sie war doch hübsch, oder? Sie war eine Schönheit. Kein Wunder, dass ihr Tod Sie so getroffen hat. Sie konnten Ihr Glück bestimmt kaum fassen, als eine so schöne Frau Sie heiraten wollte. Ich verstehe gar nicht, warum sie Lehrerin war. Das ist doch Verschwendung. In Amerika hätte sie richtig Karriere machen können, als Model oder Schauspielerin, ihr Gesicht wäre in allen Zeitschriften gewesen.
    Leo sagte:
    – Wer hat sie erschossen?
    Yates schwenkte das restliche Bier in der Flasche, als würde er einen Zaubertrank anrühren.
    – Ich war es nicht.
    Während seiner Laufbahn hatte Leo Tausende von Menschen etwas abstreiten hören. Zu seiner Enttäuschung war er überzeugt davon, dass Yates die Wahrheit sagte.

Am selben Tag
    Yates hob drei Finger.
    – Drei Menschen sind damals gestorben: Jesse Austin, Anna Austin und Ihre Frau. Viele Neger glauben, ich hätte beim alten Jesse den Finger am Abzug gehabt. Sie glauben, ich wäre der Teufel und hätte ihn erschossen, obwohl ich auf der anderen Straßenseite war, als Austin getötet wurde, mit den Händen in den Taschen und umgeben von Zeugen, sogar von echten Zeugen, nicht von Leuten, die auf eine Beförderung aus waren oder sich vor dem Gefängnis drücken wollten. Im Laufe der Jahre habe ich ein paar Hundert Morddrohungen bekommen.
    Yates deutete auf die Bücherregale, und Leo drehte sich um in der Erwartung, dort ein Bündel zusammengeschnürter Briefe zu sehen. Aber dort waren weder Briefe noch Beweise für
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