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Agent 6

Titel: Agent 6
Autoren: Tom Rob Smith
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die Machthaber mit solch geschickter Grausamkeit hin und her wechselten, dass Leo kaum mehr Luft bekam, wenn er sich die Zukunft vorstellte. Er würde hier im Ungewissen warten, gequält von gebrochenen Versprechen. Er würde nie erfahren, ob seine Töchter ihn besuchen wollten. Er würde nie wissen, ob es ihre Entscheidung war, nicht zu kommen. Diese Ungewissheit würde ihn vernichten, und das, lange bevor der Prozess seinen unvermeidlichen Ausgang gefunden hatte. Als der dreiunddreißigste Wassertropfen fiel, konnte Leo seine Enttäuschung nicht mehr unterdrücken, er lehnte sich vor, senkte vor seinen Peinigern das Haupt und ließ den Kopf auf den Tisch sinken.
    Einige Zeit später wurde die Tür geöffnet. Anders als bei früheren Gelegenheiten setzte Leo sich nicht auf. Er blickte nicht zur Tür. Wenn seine Töchter nicht in der Tür standen, würde er die Enttäuschung vielleicht nicht überleben. Er spürte, wie ihm der Druck der vergangenen Woche zugesetzt und ihm das Herz schwer gemacht hatte. Eine schwache Hoffnung konnte er trotzdem nicht unterdrücken, und so lauschte er aufmerksam. Er hörte Schritte, aber nur von einem Paar Füße in schweren Stiefeln. Sie gehörten dem KGB-Agenten. Leo schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, während er auf die schrecklichen Worte wartete:
    Heute nicht.
    Aber der Wachmann sagte nichts. Nach einem Moment öffnete Leo die Augen. Er spürte ein beängstigendes Flattern in der Brust. Wieder lauschte er und hörte jetzt unverkennbar Weinen.
    Leo setzte sich abrupt auf. Seine Töchter standen in der Tür. Elena weinte, Soja hielt die Hand ihrer Schwester. Beide waren auf ihre eigene Art schön, und beide hatten Angst. Leo erstarrte, er konnte weder sprechen noch lächeln. Er würde sich nicht freuen, solange er nicht sicher war, dass er nicht träumte oder sein übermüdetes Hirn ihm etwas vortäuschte. Vielleicht fantasierte er, sein Verstand spielte ihm einen Streich, und er stellte sich seine Töchter nur vor, während sein Kopf in Wirklichkeit noch auf dem Tisch lag. Sein Verstand hatte schon früher Spielchen mit ihm getrieben. In der afghanischen Höhle hatte ihn Raisa als Vision besucht. Ihre tröstliche Erscheinung war verschwunden, als ihm Tränen in die Augen gestiegen waren.
    Leo stand mit rasselnden Fesseln auf, er konnte nicht weitergehen. Seine Töchter betraten die Zelle und kamen langsam näher. Als er sah, wie sie sich bewegten, und die Einzelheiten ihrer Körperhaltung bemerkte, staunte er darüber, wie lebensecht diese Vision wirkte. Aber er würde keine Freude verspüren. Er würde nicht lachen oder diesen Augenblick genießen. Darauf konnte er sich nicht einlassen. Er hatte keinen, absolut keinen Zweifel daran, dass sie verschwinden würden, sobald er sie berührte oder die Augen schloss, ihr Bild würde flirren, das Licht zerfließen, sie wären fort, und er würde allein zurückbleiben. Sie entstammten nur seinem Geist, sie waren ein Trugbild, das er geschaffen hatte, um sich vor der trostlosen Wahrheit zu schützen, dass er sie nie wiedersehen würde.
    Erschöpft, zitternd und am Rande des Wahnsinns sagte Leo zu ihnen:
    – Zeigt mir, dass ihr echt seid.
    Er sah, dass Elena schwanger war; das hatte er nicht gewusst, niemand hatte es ihm gesagt. Als er zu weinen begann, liefen seine Töchter zu ihm und nahmen ihn in die Arme. Und schließlich gestattete sich Leo ein klein wenig Glück.
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