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Agent 6

Titel: Agent 6
Autoren: Tom Rob Smith
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Gedanke war, vorzuspringen und Iwanow die Kehle zu zertrümmern. Er schätzte seine Erfolgsaussichten ab, wenn man sein Alter und seine derzeitige körperliche Verfassung berücksichtigte. Dann verwarf er seine instinktive Reaktion und brachte seine Wut unter Kontrolle. Das Einzige, was er wollte, hatte er nicht bekommen – einen Besuch von seinen Töchtern. Auch wenn es ihm eine Art roher Befriedigung verschafft hätte, diesen Mann zu töten, hätte man ihn dafür mit Sicherheit auf der Stelle hingerichtet, ohne dass er Soja und Elena zu sehen bekommen hätte.
    Sichtlich erleichtert darüber, dass er nicht angegriffen wurde, erklärte Iwanow:
    – Ich musste meinen Namen ändern.
    Zum ersten Mal sagte Leo auch etwas.
    – Ein hartes Schicksal.
    Iwanow ärgerte sich über sich selbst.
    – Ich will nur erklären, warum Sie mich nicht gefunden haben. Frol Panin hat mir geraten, eine andere Identität anzunehmen. Er war sicher, dass Sie mich suchen würden, egal wie viel Zeit vergangen war. Und das haben Sie auch. Deshalb musste ich so tun, als …
    – Als wären Sie tot?
    – Ja.
    – Panin war ein kluger Mann. Das hat Ihnen das Leben gerettet.
    – Leo Demidow, glauben Sie, dass ein Mensch sich ändern kann?
    Leo musterte Iwanow aufmerksam. Er spürte echte Reue und fragte sich, ob das nur ein weiterer Trick war, eine neue Form von Strafe. Statt mit offener Feindseligkeit in der Stimme fragte er voll tiefer Skepsis:
    – Was wollen Sie?
    – Ich bin nicht hier, um mich zu entschuldigen. Ich weiß, das hätte keinen Sinn. Bitte halten Sie mich nicht für eitel oder angeberisch, aber ich habe beträchtlichen Einfluss und Macht gewonnen.
    – Das überrascht mich nicht.
    Leo tat die Beleidigung sofort leid, sie war kindisch und trotzig. Aber Iwanow ließ sich nichts anmerken.
    – Man hat entschieden, dass Sie Ihre Töchter nicht sehen dürfen. Das hielt man für die einzige Strafe, die Sie treffen würde. Sie sollten weder eine Nachricht von ihnen bekommen noch sie sehen oder mit ihnen sprechen.
    Leo fühlte sich schwach, er schwankte. Iwanow fügte rasch hinzu:
    – In Ihren Prozess kann ich nicht eingreifen. Allerdings habe ich beantragt, dass Soja und Elena Sie besuchen dürfen. Ich hatte Erfolg. Die beiden kommen morgen.
    Der Sprung von Verzweiflung zu Freude war zu viel. Erschöpft vom Schlafmangel sackte Leo auf die Bettkante, stützte den Kopf in die Hände und atmete tief durch. Iwanow sprach weiter.
    – Dafür bitte ich Sie nur um eines. Sagen Sie Elena nicht, dass ich das veranlasst habe. Erwähnen Sie mich bitte gar nicht. Das würde den ganzen Besuch für sie verderben.
    Leo brauchte einen Moment, um sich zu erholen. Seine Stimme klang schwach, Zorn und Widerwille waren daraus gewichen.
    – Hätten Sie das veranlassen können, ohne mir davon zu erzählen?
    Iwanow nickte.
    – Ja, das hätte ich.
    Dann wandte er sich zum Gehen. Leo rief ihm nach:
    – Warum?
    Nach kurzem Zögern holte Iwanow ein Foto hervor und zeigte es Leo mit zitternden Händen. Darauf saß Mikael Iwanow neben seiner Frau. Sie war eher hübsch als schön, mit einem sanften Blick und einem offenen Gesicht. Leo fragte:
    – Haben Sie ihr gesagt, was Sie gerade machen?
    – Ja.
    – Haben Sie auch gesagt, warum?
    – Sie hält das für eine freundliche Geste, für einen Ausdruck meiner Gutmütigkeit.
    Nachdem Leo die Gesichter des Paares betrachtet hatte, senkte er den Blick und starrte auf den Boden. Iwanow steckte das Foto wieder in die Tasche und fügte hinzu:
    – In ihren Augen bin ich ein guter Mensch. Näher werde ich dem wohl nicht kommen.

Am nächsten Tag
    Wieder saß Leo mit gefesselten Armen und Beinen in der Verhörzelle und wartete auf seine Töchter. Wieder waren mehrere Stunden vergangen, in denen die Wachen ihm nicht geantwortet hatten und er nicht wusste, was geschah. Er warf einen Blick nach oben auf das Wasserrohr in der Ecke. An der verrosteten Verbindungsstelle formte sich gerade der dreiunddreißigste Tropfen. Er wartete seit beinahe sechs Stunden. Konnte Iwanow ihn angelogen haben? Nein, die Reue auf seinem Gesicht war echt gewesen, das hätte er nicht vorspielen können. Aber vielleicht hatten noch höherrangige Männer ihr Spiel mit Iwanow getrieben und ihn angelogen. Vielleicht hatte er Leo die angeblich guten Nachrichten übermitteln sollen, damit der Verräter heute noch mehr litt, wenn seine Töchter nicht kamen. Hoffnung und Verzweiflung hießen die Folterinstrumente, zwischen denen
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