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Agent 6

Titel: Agent 6
Autoren: Tom Rob Smith
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Ereignisse jener Nacht in New York genau vorstellen, er verstand jedes Detail und begriff die Motive dahinter. Aber wichtig war nur, dass er endlich begriffen hatte, wie sinnlos der Versuch war, Raisa am Leben zu erhalten. Das ungelöste Rätsel hatte ihm nie mehr geboten als die Illusion, sie sei bei ihm, während er dem Schatten seiner großen Liebe nachjagte.
    Er würde Raisa nie wiedersehen. Er würde nie wieder neben ihr schlafen oder sie küssen. Und mit diesem Gedanken ließ er den glatten, schweren Stein aus der Hand rollen. Es war Nacht geworden. Der rote Schimmer des Sonnenuntergangs war verblasst. Auf Coney Island leuchteten hell die Lichter.
    Leo hörte Schritte und drehte sich um. Nara und Zabi kamen auf ihn zu. Als sie ihn erreichten, blieben sie stehen; sie wussten nicht, was sie sagen sollten. Er klopfte neben sich auf den Boden.
    – Setzt euch ein wenig zu mir.
    Nara setzte sich auf eine Seite, Zabi auf die andere. Leo ergriff Zabis Hand. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte, ohne zu wissen, was es war.
    – Verlässt du uns?
    Leo nickte.
    – Ich muss nach Hause gehen.
    – Ist das hier kein Zuhause?
    – Es ist dein Zuhause. Ich muss wieder nach Russland gehen.
    – Warum?
    – Weil meine Töchter da sind. Sie stecken in Schwierigkeiten. Sie werden an meiner Stelle bestraft. Das kann ich nicht zulassen.
    – Können sie nicht hierherkommen? Sie können doch bei uns wohnen. Ich teile auch mein Zimmer mit ihnen.
    – Das wird man ihnen nicht erlauben.
    – Ich will nicht, dass du weggehst.
    – Ich will dich auch nicht verlassen.
    – Kannst du nicht bis Weihnachten bleiben? Davon habe ich in der Schule gelesen. Ich möchte mit dir feiern. Wir können einen Baum kaufen und ihn mit Lichtern schmücken.
    – Das kannst du doch mit Nara machen.
    – Wann kommst du zurück?
    Leo antwortete nicht.
    – Du kommst doch zurück, oder?
    – Wahrscheinlich nicht.
    Zabi fing an zu weinen.
    – Haben wir was falsch gemacht?
    Leo drückte ihre Hand.
    – Du bist ein großartiges Mädchen. Du wirst hier mit Nara ein wunderbares Leben haben. Da bin ich mir ganz sicher. Du kannst alles erreichen, was du dir vornimmst. Und ich freue mich schon darauf, von deinen Erfolgen zu hören. Aber ich muss von hier fortgehen.

Einen
Monat
später

Sowjetischer Luftraum über Moskau
13. Dezember 1981
    Als Leo aus dem Fenster des Passagierflugzeugs spähte, das die sowjetische Regierung für seine Rückkehr gechartert hatte, sah er enttäuscht, dass sich Moskau unter düsteren Wolken versteckte, als scheute es den Blick des heimkehrenden Verräters und wollte ihm die Stadt nicht zeigen, der er Schutz vor allen Feinden von innen und außen geschworen hatte. Welche Gründe er auch anführte, er konnte nicht abstreiten, dass er sich schämte. Er hatte stolz als sowjetischer Soldat gekämpft und wäre bereitwillig für sein Land gestorben. Trotzdem hatte er es am Ende verraten. Aber so groß seine persönliche Scham auch war, schämte er sich noch weit mehr für sein Land, das seine Chance auf sozialen Fortschritt verspielt hatte, um stattdessen Finsternis allüberall zu verbreiten, seine Bürger in eine mörderische Planwirtschaft einzubinden und in jedem Winkel des Landes Todesfabriken zu bauen, von den Gulags in Kolyma bis zum Hauptsitz der Geheimpolizei, der Lubjanka, die sich irgendwo unter den Winterwolken versteckte. Gemessen an den Idealen, auf die sich die Revolution gestützt hatte, waren sie alle mehr oder weniger Verräter.
    Der Flug von New York hatte gespenstisch gewirkt. Leo war von freien Plätzen umgeben, das Flugzeug war leer bis auf die KGB -Agenten, die ihn bewachten, und die Diplomaten aus Moskau, die seine Rückkehr beaufsichtigten. Beim Betreten des Flugzeugs hatte Leo keine Angst verspürt, sondern über die Unsummen nachgedacht, die für seine Rückführung verschwendet wurden. Als Verräter von internationalem Rang hatte man ihm ein ganzes Flugzeug zugestanden. Er erinnerte sich an die Vergünstigungen, die er sich als junger Agent gewünscht hatte, und schmunzelte darüber, dass nicht einmal dem mächtigsten Offizier des KGB mit der größten Datscha und der längsten Limousine ein ganzer Düsenjet bewilligt würde. Es ging schlicht und ergreifend um den Schein. Leos Abschiebung fand auf einer internationalen Bühne vor einem weltweiten Medienzirkus statt, dabei durfte nicht gespart werden. So, wie Raisa in der modernsten Passagiermaschine des Landes nach New York geschickt worden war,
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