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Agent 6

Titel: Agent 6
Autoren: Tom Rob Smith
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von Verfall und Vernachlässigung. Das Haus war gemacht für eine Familie, aber es gab nirgends ein Zeichen von ihr. Das einzige Bild war ein Hochzeitsfoto, das einen gutaussehenden Mann und seine schöne Frau zeigte, beide unter einem Schleier aus Staub.
    Als sie sich umsahen, wirbelte jeder Schritt auf dem Teppich eine Staubwolke auf, die sich auf Leos Schuhspitzen legte. Einzig der Küche sah man an, dass sie vor Kurzem benutzt worden war. Die Fugen zwischen den Kacheln starrten schwarz vor Dreck. In der Spüle stapelte sich Geschirr, Kaffeetassen und verkrustete Teller. Leo sah in den Kühlschrank. Darin standen mehrere Kartons Milch. Im Eisfach fand er einen Turm aus Fertiggerichten, insgesamt zählte er sieben.
    Leo konnte sehen, dass Naras Neugier geweckt war, unter ihre Befürchtungen hatte sich der Wunsch gemischt weiterzumachen. Zum zweiten Mal durchsuchten sie zusammen das Haus eines Verdächtigen. Leo sagte:
    – Ich schätze, Agent Yates ist nicht der Typ Mensch, der Tagebuch führt.
    – Was für ein Mensch ist er denn?
    Wieder dachte Leo an Elenas Beschreibung in ihrem Tagebuch.
    Er macht mir Angst.
    Dieses Haus hätte ihre Ängste nicht gelindert. Als Leo sich entscheiden musste, ob er die oberen Stockwerke erkunden oder in den Keller gehen wollte, wählte er den düsteren Keller, weil er glaubte, dieser würde eher zu Yates passen.
    Auf die Holzstufen, die hinunter in den Keller führten, hatte jemand rechteckige Teppichstücke genagelt, ohne auf das Aussehen zu achten; man fragte sich, warum er das überhaupt getan hatte. Die Antwort hing unter der Decke: Sie war mit schwarzem schalldämmendem Schaumstoff verkleidet. Auch der Betonboden war mit einem Flickwerk verschiedener Materialen ausgelegt, den Resten der Teppiche aus den oberen Stockwerken. Es ging nicht um Aussehen oder Annehmlichkeit, sondern um Lärm, darum, ein stilles Zimmer zu schaffen, einen Kokon, abgeschnitten von der Welt.
    Ein abgewetzter Sessel war vor einem großen Fernseher platziert, der auf einem kleinen Beistelltisch stand. In einem zweiten Kühlschrank reihten sich ordentlich Bierflaschen aneinander, alle mit den Etiketten nach vorn. Vor Kurzem gelesene Zeitungen mit ausgefüllten Kreuzworträtseln stapelten sich in die Höhe. Leo sah die selbstgebauten Bücherregale durch. Darin standen mehrere Biographien bekannter Sportler, Nachschlagewerke, ein Lösungsbuch für die Kreuzworträtsel, mit denen Yates sich offenbar die Zeit vertrieb. Dazu Anglerzeitschriften und Pornographie – Fotos von nackten Frauen. Das Zimmer glich der Bude eines Teenagers, die sich unter einem verfallenden, scheinbar anständigen Einfamilienhaus versteckte.
    Durch den Teppichboden auf den Stufen und die schallgedämmte Decke hörten weder Leo noch Nara, dass Yates nach Hause kam. Erst, als sich Leo zu Nara umwandte, sah er den Mann auf den obersten verkleideten Stufen stehen.

Am selben Tag
    Yates war einmal ein gutaussehender Mann gewesen, dachte Leo, als er sich an das dichte, dunkle Haar und den gutgeschnittenen Anzug auf dem Hochzeitsfoto erinnerte. Aber das war vorbei. Unter den gelblich verfärbten Augen hingen Tränensäcke. Als Ausgleich zu seinen schlaffen Gesichtszügen waren seine Lippen angespannt und bleistiftdünn. Das graue Haar hatte er mit Gel geglättet, er trug die gleiche Frisur wie als junger Mann, aber jetzt wirkte sie wie ein kränkliches Imitat, ein Nachäffen von Jugend. Auch sein Anzug mochte früher modisch gewesen sein, doch jetzt war er veraltet und abgetragen, das fadenscheinige Material schlackerte um Yates’ Knochen. Er hatte abgenommen. Nach dem Inhalt des Kühlschranks vermutete Leo, dass der Alkohol seinem Körper zugesetzt hatte. Aber auch die ersten Schwächen des Alters ließen ihn nicht sanfter erscheinen, die körperlichen Anfälligkeiten schmälerten seine aggressive Ausstrahlung kaum. Egal was er sich hatte zuschulden kommen lassen oder welche Rolle er bei den Ereignissen jenes Abends gespielt hatte, dieser Mann bereute nichts, er starrte sie mit unverfrorenem Selbstbewusstsein und ohne jede Spur von Bedauern an. Sie hatten ihn gejagt, waren in sein Haus eingebrochen, und trotzdem sprach er als Erster und verschaffte sich damit eine Machtposition, voll eitler Freude, dass sie ihn nicht hatten überraschen können.
    – Ich habe Sie schon erwartet.
    Leo fing sich wieder und fragte Nara auf Dari:
    – Weiß er, wer wir sind?
    Sie hatte keine Zeit, die Frage zu übersetzen. Yates erriet sie und
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