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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut
Autoren: Hans Waal
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    Sonntag
    28. MÄRZ 2004 Heute muß Karfreitag sein, und daran - meine liebe Liesbeth - kann selbst Otto wenig ändern. Stell Dir nur vor: Er hat gerade erst den Jahreswechsel befohlen! Dabei spürt man im äußeren Postengang schon ganz deutlich, wie die Erde taut und der Beton schwitzt - daß Frühling wird. Wir hängen der Wirklichkeit mindestens zwei Monate hinterher, eher mehr. Nach meiner Rechnung möchten es inzwischen ganze 79 Tage sein.
    Zuweilen werde ich das Gefühl nicht los, Otto vergißt den Tagesbefehl sogar absichtlich. Um Papier zu sparen? Wegen der Truppenmoral? Was weiß ich. Womöglich denkt er sich aber auch gar nichts dabei, denn an anderen Tagen läßt er mich dann gleich wieder zwei Formulare ausfüllen, weil er den Mittagsschlaf mit der Nachtruhe verwechselt. Oder weil es sonst nicht mehr viel zu befehlen gibt. Ich kann Dir vielleicht sagen ...
    Wenn nicht gerade eine Beförderung ansteht oder eine Beisetzung, interessiert das genaue Datum hier unten sowieso keinen mehr. Jahreszeiten haben für die Kameraden jede Bedeutung verloren. Wahrscheinlich feiern wir sogar den Geburtstag des Führers inzwischen seit Jahren im Hochsommer. Konrad meint, das wäre auch egal. Ich bin mir da nicht so sicher, aber Befehl ist Befehl.
    Schon gut, Liesbeth, ich weiß, was Du jetzt wieder sagen wirst: Ich soll nicht so viel grübeln und jede Stunde zählen, die Tage und Monate - und die Schaltjahre nicht zu vergessen! Es mag ja sein, daß sich Zeit mit Zeitrechnung nicht wirksam vertreiben lässt: Ein Jahr wird nicht kürzer davon - aber Liesbeth - es wird auch nicht mehr! Und das ist doch schon allerhand Trost oder etwa nicht? Ein Jahr bleibt ein Jahr. Dafür braucht niemand Befehle, nicht mal Jahreszeiten, die mir immer noch am meisten fehlen, neben meinem Piano und Dir natürlich.
    Sieh es mir also nach! Ich möchte mir nur vorstellen, was Du gerade machst, wie Du aussiehst und was du trägst, ob es ein Kleid ist oder ein dicker Mantel, ob Du am Ofen in unseren Lieblingsbüchern schmökerst oder mit den anderen Mädchen im Strandbad tobst, vielleicht sogar am Wahrländer See. Gibt es unseren Steg noch? Warst Du mal wieder dort? Ich hoffe, allein!
    Bei uns hat sich seit meinem letzten Eintrag wenig getan: Josef schläft die meiste Zeit. Otto verfällt zusehends. Und Konrad kocht und ißt und kocht - an ihm perlt alles ab wie an einem frisch gewichsten Stiefel. Immer öfter verschwindet er mehrere Stunden in der Werkstatt und atmet absichtlich Lösungsmittel ein. Dann sei alles gut, sagt er, und immer öfter beneide ich ihn insgeheim für seine dumpfe Gleichgültigkeit.
    Und bei Dir? Wie geht es Mutter, Gisela und Wolfgang? Mein Gott - das Wölfchen! Wahrscheinlich ist der Kleine inzwischen selbst seit Jahren an der Front. Und Vater? Ich muss mich wohl endgültig von dem Gedanken verabschieden, er könnte noch leben. Auch davor schützt die elende Rechnerei - vor falschen Hoffnungen. Ich bete, daß er wenigstens einen ehrenvollen Rittertod gefunden hat, wie er sich das immer gewünscht hat.
    Ein von Jagemann stirbt nicht im Bett, er stirbt im Feld oder nie! Oft denke ich an seine Worte und höre ihn über meine Wehwehchen lachen, wenn ich klein und krank im Bett lag. Nun muss ich mich in seinem Namen auch noch für meine eigene traurige Laufbahn schämen: Ein von Jagemann - verdammt zum Warten und der Befehlsgewalt eines klapprigen Greises ausgeliefert, der just in diesem Moment wieder brüllt wie ein Ochse, und niemand weiß warum. Es wird wirklich immer schlimmer mit Otto!
    Unter normalen Umständen dürfte er nicht mal mehr eine Schar Pimpfe befehligen. Laut Soldbuch ist er fast 83 Jahre alt. Ein Bein gehorcht ihm gar nicht, das andere selten, gelegentlich macht er sich naß. Sein blindes Auge verbirgt er unter einer Augenklappe, und so wie er das andere zusammenkneift, würde ich meinen Sold der letzten 50 Jahre darauf wetten, daß er damit auch nicht mehr viel sieht. Wenn er beim Morgenappell seinen gesunden Arm zum Gruß erhebt, braucht er hinterher jedes Mal eine halbe Stunde Frischluft. Und siehst Du, so gibt es doch immer noch etwas Neues zu vermelden: Die Flaschen mit reinem Sauerstoff sind nämlich alle. Josef hat deshalb extra für Otto einen Schlauch vom Belüftungssystem abgezweigt - vor der Filteranlage! Was bei einem Gasangriff wird? Tja, das habe ich natürlich auch zu bedenken gegeben, aber glaube bloß nicht, es hätte einen interessiert!
    Oft erinnert mich Otto an Oma Luise, kurz bevor
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