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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut
Autoren: Hans Waal
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stimmte ein neues Lied an, das überhaupt kein Ende nehmen wollte. Die Leute begannen sogar an verschiedenen Stellen immer wieder von vorn, bis alle durcheinander sangen: »Herr, gib uns deinen Fri-ie-den...«
    Dieses Wochenende war jedenfalls im Eimer, und Busch musste die Nase von diesem Singsang mindestens ebenso voll haben, gar nicht zu reden von der jungen Frau, die uns unermüdlich über die Lichtung scheuchte. Sein Wutanfall war überfällig.
    Sie hieß Julia oder Jessi, irgendwas mit J, und war mir vorher beim Sender nie aufgefallen. Die jungen Frauen bei Kanal 5 hießen alle irgendwas mit J. Sie sahen auch immer alle gleich aus in ihren gesteppten Jacken und imitierten Reiterhosen und hielten jeden Mist für »großes Kino«. Diese Mädchen wollten unbedingt ins Fernsehen, hatten sich auf dem Weg dahin in eine Redaktion verirrt und ließen sich dort nach Kräften ausbeuten. Manche taten sogar so, als seien wir Kollegen. In Wirklichkeit, so hatte es mir Busch einmal erklärt, wurden wir auch dafür bezahlt, ihren Ehrgeiz zu ertragen und notfalls den Beitrag zu retten. Die »Küken«, wie er sie nannte, gehörten eben zum Deal und waren seiner Meinung nach genau so lange das, bis der Chef wieder mal Abwechslung unter seinem Schreibtisch brauchte. Bei Gelegenheit sagte er das den Küken auch ins Gesicht, meist »ein für alle Mal«, was seine Lieblingsfloskel war. Und wenn sie das nicht schluckten oder daraufhin Theater machten, von wegen Sexismus oder so, flogen sie auch schon mal aus seinem Auto.
    Gerade erst hatte er sich einen neuen Van gekauft, schneeweiß und mit allen Schikanen. Besonders stolz war er auf das Handschuhfach, in dem nicht nur eine Anderthalb-Liter-Flasche Cola Platz fand - sondern zwei. Eine Flasche Wodka wäre auch noch reingegangen, aber aus irgendeiner Scham, die sonst gar nicht seine Art war, mixte sich Busch den Treibstoff stets zu Hause vor und tarnte ihn dann in Pfandflaschen als Cola pur. »Um es zu schonen«, fuhr er das neue Auto ausschließlich selbst, auch wenn das üblicherweise der Assi machte. Weil ich das ehrlich gesagt auch besser konnte als er, hielt mich Busch am Steuer für einen Irren, aus vielen ähnlichen Gründen sowieso. Und selten war ich so zufrieden damit wie an diesem Tag.
    Es ging mir von Anfang an nicht besonders. Ich hätte vielleicht auf die Nacht zuvor verzichten sollen. Aber, Mann, wer sagt schon ab, wenn er im Doro auflegen darf? Die Besitzer des Clubs waren zufrieden gewesen. Schon am Mittwoch sollte ich ihren Schuppen wieder heizen, denn der Haus-DJ hatte sich gerade nach Ibiza abgesetzt. Mit etwas Glück konnte ich sein Nachfolger werden - Resident im Doro! Dann hätte ich die Fernsehkohle nicht mehr gebraucht und endlich davon leben können, vom Plattenteller in den Mund sozusagen, hätte mehr Zeit für eigene Nummern, DJ Ben auf allen Flyern der Stadt...
    Träume dieser Art mussten mich wohl auch auf der viel zu frühen Fahrt von Berlin noch einmal übermannt haben, denn ich war erst wieder aufgewacht, als der Wagen über Wurzeln rumpelte und Busch über ein Funkloch schimpfte. Bis auf uns, einen Imbisswagen und eine Gulaschkanone, die nicht recht dazu passen wollte, hatten sich die Friedensaktivisten tatsächlich alle zu Fuß mehrere Kilometer tief in den Wald geschleppt. Doch ob es nun hundert Spinner waren oder tausend, lila Tücher oder weiße - die Frage war eher, wen das überhaupt noch interessierte heutzutage? Außer uns waren nicht mal andere Journalisten da. Allein Julia oder Jessi ließ sich davon nicht beirren.
    Mindestens 50 Demonstranten hatte sie in den ersten drei Stunden schon ihr Mikro unter die Nase gerammt. Und es sah ganz danach aus, als hätten wir erst Feierabend, wenn ihr auch noch der letzte Hippie verraten haben würde, warum er hier ist. Mit einem fröhlichen »Halli-Hallo« überrumpelte sie die Trantüten. Bei jedem »Ah« nickte sie gespannt und bedankte sich für vollständige Sätze mit einem anschmiegsamen Lächeln. Womöglich war es einer ihrer ersten Tage bei Kanal 5, denn ihrem Elan konnten selbst die immer gleichen Phrasen nichts anhaben, die sie zu hören bekam: Vom Frieden im Kleinen und im Großen und in Deutschland im Besonderen... Die Antworten rauschten nur so durch meine Kopfhörer und wenn sich doch mal eine dazwischen verhedderte, dachte ich lediglich an den kleinen Frieden auf dieser Lichtung und die Cola-Flaschen im Handschuhfach. Der Van parkte inzwischen mehrere hundert Meter entfernt am Waldrand.
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