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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman
Autoren: Heyne
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Sebastian.
    Am Ende der Treppe erwarteten ihn die unvermeidlichen Verkaufsstände mit Heiligenbildern, Kruzifixen und anderen Devotionalien. Er ging an den Geschäftemachern vorbei, die versuchten, aus Religion bares Geld zu machen. In den schmalen Gassen des Ortes saßen hier und dort alte Leute auf einfachen Holz- oder Plastikstühlen und beobachteten die vorbeikommenden Pilger. Einige von ihnen hatten die Zeichen der Zeit erkannt und kleine Tische aufgestellt, darauf Gläser mit selbstgemachter Marmelade, Oliven, Obst und Gemüse sott’aceto und sott’olio .
    Als er kurz darauf den Dorfplatz mit der Kirche erreichte, begriff er: Dies alles war erst der Anfang. Eine Schautafel mit vielen Bildern gab Auskunft über das Projekt, mit dessen Realisierung man bereits begonnen hatte. Hinter dem Dorf sollte ein Wallfahrtszentrum entstehen, größer als Drisiano selbst.
    Die Türen der Kirche standen offen, und Pilger gingen ein und aus. Weitere Verkaufsstände boten Erfrischungen und Gebäck feil. Sebastian sah auf die Uhr: kurz vor elf. Er hatte den ganzen Tag Zeit, sich umzusehen und selbst einen Eindruck von dem Jungen zu gewinnen. Am Abend erwartete ihn Anna - er hatte sie von Mailand aus angerufen, weil es zur Abmachung mit Wolfgang gehörte, ob es ihm gefiel oder nicht.

    Er ging zu einem der Stände. » Un caffè, per favore «, sagte er. Während er den Kaffee abkühlen ließ und dann auf die deutsche Art trank, in kleinen Schlucken, hörte er ein Gespräch in seiner Nähe. Ein mit starkem Akzent sprechender amerikanischer Journalist unterhielt sich mit einer älteren Italienerin, die den Jungen namens Raffaele offenbar in Aktion gesehen hatte.
    »Ja, ich habe es gesehen, mit meinen eigenen Augen«, betonte sie und deutete dabei auf ihre Augen, für den Fall, dass irgendwelche Zweifel bestanden. »Zuerst war das Gesicht voller Ausschlag und Pusteln und so, und der Junge berührte sie und sprach ganz sanft und leise zu ihr, und als sie die Kirche verließ, war ihr Gesicht völlig glatt und überhaupt nicht mehr entstellt.«
    Der amerikanische Journalist schien sich etwas Spektakuläreres erhofft zu haben. »Hat er schon Tote ins Leben zurückgeholt?«, fragte er gespannt.
    Die alte Italienerin - eine elegante Signora mit schwarzem Haar und dunklen Augen - sah ihn an, als hätte er etwas Unanständiges gesagt. »Dies ist eine ernste Sache, junger Mann. Wir sind hier nicht bei Doktor Frankenstein.«
    Mit diesen Worten ging sie am verblüfften Amerikaner vorbei. Sebastian setzte seine Kaffeetasse ab und folgte ihr.
    »Entschuldigen Sie bitte«, wandte er sich an sie, als er zu ihr aufgeschlossen hatte. Er sprach Italienisch. »Ich bin ebenfalls Journalist, aber ich verspreche Ihnen, keine dummen Fragen zu stellen.«
    Die ältere Dame musterte ihn und lächelte dann. »Sie sind nicht von hier, aber Ihr Italienisch ist gut. Der Akzent … Lassen Sie mich raten. Französisch. Oder deutsch.«

    » Tedesco «, sagte Sebastian und lächelte ebenfalls. »Ich habe sieben Jahre hier in Kalabrien gelebt und arbeite jetzt für ein deutsches Magazin. Wären Sie bereit, mir einige Fragen zu beantworten?«
    Sie deutete zur Kirche. »Dort drin. Um halb zwölf ist es wieder so weit.«
    Sebastian folgte ihr. Vor dem Haupteingang der Kirche von Drisiano blieb die alte Dame kurz stehen und richtete einen aufmerksamen Blick auf ihn. »Sind Sie gläubig, junger Mann?«
    Sebastian öffnete den Mund zu einem Ja, entschied sich dann aber für die Wahrheit. »Nein«, sagte er. Dass er Religion für Schwachsinn hielt, fügte er nicht hinzu.
    Sie lächelte erneut. »Dann erwartet Sie eine Überraschung, Signor Tedesco . Sie werden gleich Gelegenheit haben, Gottes Wirken zu sehen.«
    Sie betraten die Kirche, die natürlich nicht die Pracht großer katholischer Kathedralen bot. Der Sonnenschein filterte durch Buntglasfenster, die religiöse Szenen darstellten. Der große Altar ganz vorn war ein prächtiger Klotz mit golden glänzenden Flügeln. Mehrere brennende Kerzen standen auf den Seiten, davor etwa zwanzig Reihen Sitzbänke, mit einem Durchgang in der Mitte. Rechts und links an den Wänden hatte man Stühle aufgestellt, um möglichst vielen Besuchern der Kirche Sitzplätze zu bieten. Sebastian und die ältere Frau nahmen auf der linken Seite Platz, in der Nähe eines Beichtstuhls, denn auf den Sitzbänken drängten sich Kirchgänger, Pilger, Neugierige und zahlreiche Journalisten.
    »Gott hat ihn uns geschickt«, sagte die Signora. »Um
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