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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman
Autoren: Heyne
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aus und lauschte einige Sekunden dem summenden Rauschen der Boeing. Jedes Flugzeug hatte eine eigene Stimme, und diese klang ruhig und erhaben.
    Jemand hämmerte an die Cockpittür. Die Verriegelungen sollten Terroristen daran hindern, ins Cockpit zu gelangen, und um die Stahlverstärkung zu durchdringen, brauchte man eine Panzerfaust.
    Tojew begann damit, die einzelnen Systeme abzuschalten. Der Computer warnte mehrmals, aber er kannte die Prioritätscodes und legte auch die Sicherheitssysteme lahm.
    »Flug 5421, wir haben einen Terroristenalarm von Ihnen bekommen«, ertönte es aus einem Lautsprecher. »Wie ist die Lage an Bord?«
    Tojew lauschte der Stimme kurz und wusste, dass er die Worte einmal verstanden hatte. Jetzt ergaben sie keinen Sinn mehr für ihn.
    »Flug 5421, bitte melden Sie sich.«
    Der Kopilot schaltete auch das Funkgerät aus. Während vor
ihm eine Anzeige nach der anderen erlosch, begann sein ganzer Körper zu jucken. Tojew ahnte, was das bedeutete - es wollte aus ihm heraus.
    Er deaktivierte den Autopiloten und schob Schubregler und Steuerknüppel nach vorn. Aus dem summenden Rauschen wurde ein schnell anschwellendes Heulen, als sich der Bug nach unten neigte und die Maschine mit dem Sturzflug begann.
    Der Juckreiz wurde so stark, dass sich Tojew Jacke und Hemd vom Leib riss, dann auch die Unterwäsche. Er kratzte sich, das Gesicht eine Grimasse, und seine Fingernägel hinterließen blutige Striemen auf der Haut. Es wollte aus ihm heraus.
    Durch die Cockpitfenster sah er das im Sonnenschein glitzernde Meer. Wolkenfetzen huschten an der Boeing vorbei, die dem Atlantik entgegenraste. Nur noch siebentausend Meter …
    Wieder hämmerte jemand an die Tür, nachdrücklicher und verzweifelter, aber was hinter der Tür geschah, bei Passagieren und Besatzung, spielte für Tojew keine Rolle. Er kratzte sich jetzt nicht mehr und hielt den Blick aufs Meer gerichtet, als er Schubregler und Steuerknüppel ganz nach vorn drückte.
    Die Maschine heulte noch lauter.
    Sechstausend Meter. Fünftausend. Viertausend …
    Die Boeing schüttelte sich wie ein lebendes Wesen, als wüsste sie, dass ihr Ende unmittelbar bevorstand.
    Einige weitere Sekunden verstrichen, und dann war es so weit. In einem spitzen Winkel prallte das Flugzeug aufs Meer, das bei dieser Geschwindigkeit des Metallvogels die relative Härte von Beton hatte.
    Wie von einer gewaltigen Kanonenkugel getroffen, platzte
die Boeing auseinander. Michail Tojew war sofort tot; die Passagiere und Besatzungsmitglieder starben eine knappe Sekunde später.
     
    Etwas löste sich vom zerfetzten Leichnam des Kopiloten, wie vager Dunst, und suchte eine Membran, dünn wie die Oberflächenspannung des Wassers, und doch so fest wie eine dicke Stahlwand. Als es in der Nähe nichts fand, trieb es eine Zeit lang umher und löste sich dann auf.

8
    Drisiano
    W olken zogen vom Meer heran und versprachen für später Regen, aber es war warm, angenehme fünfundzwanzig Grad. Sebastian trug Jeans und ein kurzärmeliges Hemd, als er den Mietwagen auf dem Parkplatz unterhalb von Drisiano parkte, auf dem Dutzende von Wagen und mehrere Busse standen. Weiter oben schmiegten sich die kleinen weißen Häuser des Ortes an den Hang des Aspromonte, der sich im Westen bis über tausendsiebenhundert Meter erhob.
    Als er ausstieg und den Mietwagen abschloss, erreichte gerade ein weiterer Bus den Parkplatz, auf dem es langsam eng wurde. Die Türen öffneten sich, und Pilger stiegen aus, überwiegend ältere Leute, von denen einige sehr gebrechlich wirkten. Sebastian ging an ihnen vorbei zur Treppe, hörte aufgeregte Stimmen und leise Gebete. Diese Leute kamen voller Hoffnung. Sebastian kam voller Ärger und Verdruss - er war noch immer sauer auf Wolfgang, der ihm die Pistole auf die Brust gesetzt hatte. Er war so sauer gewesen, dass er seinen Zorn am vergangenen Abend im Hotel in Rotwein und Grappa ertränkt hatte, was er jetzt bedauerte - sein Kopf schien in einer Presse zu stecken.
    Langsam ging er die Treppe hoch, atmete dabei die würzige
Luft tief ein. Sie erzählte vom Meer und einem Sommer, der hier noch nicht zu Ende war wie im Norden Deutschlands. Sie berichtete von Wäldern, Felsen und einer weiter im Landesinnern tatsächlich noch wilden, unberührten Natur. Wildkatzen gab es dort, Wölfe und Habichtsadler. Und Erdlöcher und Höhlen, in denen die’Ndrangheta, die kalabrische Mafia, Entführte versteckt und mit ihnen hohe Lösegelder erpresst hatte, erinnerte sich
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