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Adressat unbekannt

Adressat unbekannt

Titel: Adressat unbekannt
Autoren: Dorothee Böhm
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Verschont der Chirurg den Krebs, nur weil er ihn wegschneiden muß, um ihn zu entfernen? Wir sind grausam. Natürlich sind wir grausam. So wie jede Geburt grausam ist, so ist es auch diese neue Geburt unserer selbst. Aber wir erleben eine große Freude. Deutschland erhebt wieder sein Haupt im Kreise der Nationen dieser Welt. Deutschland folgt seinem Führer in den Triumph. Was verstehst Du schon davon, der Du nur dasitzt und träumst? Du hast nie einen Hitler kennengelernt. Er ist ein frisch geschliffenes Schwert. Er ist ein weißes Licht, aber so glühend heiß wie die Sonne eines neuen Tags.
    Ich muß darauf bestehen, daß Du mir nicht mehr schreibst. Wir sind keine Freunde mehr, das müssen wir beide anerkennen.
    Martin Schulse

GALERIE EISENSTEIN
SAN FRANCISCO, KALIFORNIEN, U.S.A.
    5. September 1933
    Herrn Martin Schulse
c/o Deutsch-Völkische Bank
und Handelsgesellschaft
München, Deutschland
    Lieber Martin,
    beigelegt findest Du Deinen Kontoauszug und die Monatsabrechnungen. Es ist notwendig, daß ich Dir eine kurze Nachricht schicke. Griselle ist nach Berlin gegangen. Sie ist zu wagemutig. Aber sie hat so lange auf den Erfolg gewartet, daß sie jetzt nicht darauf verzichten wird, und sie lacht über meine Ängste. Sie wird am König-Theater spielen.
    Du bist Parteimitglied und bekleidest ein öffentliches Amt. Um unserer alten Freundschaft willen bitte ich Dich inständig, auf sie aufzupassen. Fahre nach Berlin, wenn Du es ermöglichen kannst, und schaue, ob sie in Gefahr ist.
    Ich nehme an, es wird Dir mißfallen, daß ich mich gezwungen gesehen habe, Deinen Namen aus dem Galerienamen zu entfernen. Aber Du weißt, wer unsere wichtigsten Kunden sind. Sie würden jetzt niemals etwas anrühren, das aus einer Firma mit deutschem Namen kommt.
    Über Deine neue Haltung kann ich nicht diskutieren. Aber Du mußt mich verstehen. Ich hatte nicht erwartet, daß Du für mein Volk zur Waffe greifen würdest, weil es mein Volk ist, sondern weil Du ein Mann warst, der die Gerechtigkeit liebte.
    Ich vertraue Dir meine unbesonnene Griselle an. Das Kind sieht nicht, in welche Gefahr es sich begibt. Ich werde Dir nicht mehr schreiben.
    Auf Wiedersehen, mein Freund,
    Max

GALERIE EISENSTEIN
SAN FRANCISCO, KALIFORNIEN, U.S.A.
    5. November 1933
    Herrn Martin Schulse
c/o Deutsch-Völkische Bank
und Handelsgesellschaft
München, Deutschland
    Martin,
    ich schreibe Dir noch einmal, weil mir kein anderer Ausweg bleibt. Eine dunkle Vorahnung hat von mir Besitz ergriffen. Sobald ich wußte, daß Griselle in Berlin angekommen war, habe ich ihr geschrieben. Sie antwortete auch kurz, die Proben verliefen hervorragend und das Stück habe bald Premiere. Mein zweiter Brief war aufmunternder Natur, ohne ängstliche Warnungen, und er wurde mir ungeöffnet, mit einem Stempel »Adressat unbekannt« zurückgesandt. Welche Dunkelheit diese Worte bergen! Wie kann sie unbekannt sein? Es handelt sich bestimmt um die Mitteilung, daß ihr etwas zugestoßen ist. Sie wissen, was mit ihr geschehen ist, das sagen diese gestempelten Briefe, nur ich soll es nicht erfahren. Sie hat sich in eine Art Leere aufgelöst, und es ist sinnlos, sie zu suchen. All das sagen sie mir mit zwei Worten: »Adressat unbekannt«.
    Martin, muß ich Dich ausdrücklich bitten, sie zu finden, ihr beizustehen? Du hast ihre Anmut gekannt, ihre Schönheit und Zartheit. Sie hat Dir ihre Liebe geschenkt, keinem anderen Mann außer Dir. Versuche nicht, mir zu schreiben. Ich weiß, ich brauche Dich um Deine Hilfe noch nicht einmal zu bitten. Es genügt, Dir zu sagen, daß etwas Schlimmes passiert ist, daß sie in Gefahr schwebt.
    Ich gebe sie in Deine Hände, denn ich kann ihr nicht zur Seite stehen.
    Max

GALERIE EISENSTEIN
SAN FRANCISCO, KALIFORNIEN, U.S.A.
    23. November 1933
    Herrn Martin Schulse
c/o Deutsch-Völkische Bank
und Handelsgesellschaft
München, Deutschland
    Martin,
    in großer Verzweiflung wende ich mich an Dich. Ich konnte nicht noch einen weiteren Monat warten, also sende ich Dir einige Unterlagen, Deine Investitionen betreffend. Unter Umständen möchtest Du hier und da Änderungen vornehmen, und ich kann so meine Bitte einem Bankbrief beilegen.
    Es geht um Griselle. Seit zwei Monaten habe ich keine Nachricht von ihr erhalten, und nun dringen auch noch Gerüchte an mein Ohr. Von jüdischem Mund zu jüdischem Mund weitergetragen, gelangen allmählich Berichte aus Deutschland zu uns herüber, Geschichten so voller Schrecken, daß ich meine Ohren verschließen würde, wenn
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