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Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Autoren: Norbert F. Pötzl
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Vorwort
    Blond, blauäugig und freiheitsliebend sollen sie gewesen sein, aber auch rauflustig, trinkfreudig und unberechenbar: Kaum ein Volk ohne schriftliche Überlieferung meinte man noch vor 100 Jahren besser zu kennen als die Germanen. Im Hochgefühl nationalen Aufbruchs hatten Gelehrte und Ideologen vor allem des 19. Jahrhunderts jeden Winkel der Überlieferung durchforstet. Von der unansehnlichen Tonscherbe bis zur isländischen Stabreimsaga, von den Hinweisen bei griechischen und römischen Historikern bis hin zu Wallanlagen und den Spuren frühzeitlicher Pfostenlöcher häufte sich eine gewaltige Masse an Indizien. Detailscharf glaubte man Lebensweise und Weltanschauung der Menschen rekonstruieren zu können, die einst östlich des Rheins und nördlich der Alpen gewohnt und die Militärmaschinerie der Römer oft genug das Fürchten gelehrt hatten – wenn sie nicht gar zur Hauptursache für den Niedergang des antiken Imperiums erklärt wurden.
    Doch so vielfältig die archäologischen Funde auch sind, so akribisch die Suche vorangetrieben wurde: Das einstige Heldenporträt der Germanen ist heute fragwürdig und problematisch geworden, ja weithin widerlegt. Zwei Weltkriege, die im Namen des deutschen Nationalbewusstseins entsetzliches Leid heraufbeschworen, ließen auch in der Wissenschaft immer mehr methodische Zweifel aufkommen. Es folgten etliche Jahrzehnte skeptischer Revision der Quellen. All das hat vom überkommenen Bild der Ureinwohner Deutschlands so gut wie nichts übriggelassen.
    Als einigermaßen gesichert gelten kann heute eigentlich nur: Es waren einzelne Stämme, die das großenteils dünn besiedelte Nordeuropa bewohnten. Erst der Zusammenprall mit den Römern ließ für die weit zerstreute Bevölkerung überhaupt einen Volksnamen aufkommen; erst die für das Imperium ungewohnte Zähigkeit und Widerstandskraft dieser nichtkeltischen »Barbaren«, die den Legionen immer wieder – keineswegs nur in der legendären Varusschlacht – böse militärische Überraschungen bereiteten, schuf das Klischee vom unberechenbaren nordeuropäischen Kraftkerl. »Cäsar hat die Germanen erfunden«, resümiert Mischa Meier, Professor für Alte Geschichte in Tübingen, und warnt sogleich davor, diese von außen herangetragene Beschreibung als historische Wahrheit zu übernehmen. Selbst die »Germania« des römischen Historikers Tacitus, seit dem Humanismus zum Urtext deutscher Volksideologie stilisiert, gibt fast ausschließlich das gewohnte Stereotyp barbarischer Energie wieder. Andere Passagen des legendären Textes klingen sogar derart verrätselt, dass man glauben könnte, der Autor habe sich unbedingt eine Hintertür offenhalten wollen.
    Was also lässt sich heute guten Gewissens über die Germanen sagen? Sprachlich betrachtet dann doch einiges: Viele Wortwurzeln können Linguisten des Indoeuropäischen bis ins ferne Sanskrit und andere uralte Sprachformen zurückverfolgen. Die archäologischen Funde erzählen vom eher primitiven Alltagsleben in Siedlungen und Dörfern aus den charakteristischen Langhäusern, aber man hat auch verblüffende Geschichten von Schlachten und Menschenopfern, Spuren des Totengedenkens und des Götterkults ausfindig gemacht – obgleich die Namen fehlen. Erkennbar wird immerhin, dass im germanischen Raum sicher nicht nur tumbe Hinterwäldler hausten, sondern eine meist in Gefolgschaftsverbänden organisierte, aus freien Bauern und Viehzüchtern zusammengesetzte Einwohnerschaft, die in der Regel kaum je ein Volk im heutigen Sinne darstellte.
    Die lange Grenze zum lockenden Süden, dessen enorme wirtschaftliche Überlegenheit immer wieder zu Raubzügen animierte, änderte diese Lage. In der römischen Kaiserzeit waren Germanen nicht länger nur Gegner und Sklaven; sie konnten Handelspartner, Vasallen und zuverlässige Stützen der imperialen Macht sein. Während der späteren Antike kämpften zahlreiche germanische Söldner in den kaiserlichen Truppen, nicht selten gegen andere germanischsprachige Heere. Einwanderung und Austausch brachten es mit sich, dass schließlich sogar Menschen germanischer Abstammung zu politischen Führungsfiguren aufstiegen.
    Reibungslos allerdings verlief auch die Spätphase nicht: Immer wieder kam es während der Völkerwanderungszeit zu Schlachten und Plünderungen; als 410 die Westgoten unter Alarich Rom einnahmen, sahen viele Zeitgenossen darin ein Symbol für den Niedergang der Großmacht. Doch in aller Regel waren die Eroberer beeindruckt von der
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