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Adressat unbekannt

Adressat unbekannt

Titel: Adressat unbekannt
Autoren: Dorothee Böhm
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einen Bruder geliebt habe, dessen Herz immer vor Sympathie und Freundschaft übersprudelte, kann doch unmöglich, und sei es in untätiger Mitläuferschaft, an der Abschlachtung eines unschuldigen Volkes teilhaben. Ich vertraue Dir und bete, daß ich Deine Lage richtig verstehe. Ich erwarte keine ausführliche Erklärung von Dir, die Dich in Schwierigkeiten bringen könnte – nur ein einfaches »Ja«. Das wird mir sagen, daß Du den notwendigen opportunistischen Part spielst, aber daß Dein Herz sich nicht gewandelt hat, daß ich mich nicht in meinem Glauben getäuscht habe, Du seist immer ein Mann von feinem, liberalem Geist gewesen, für den das Falsche falsch bleibt, in wessen Namen auch immer es verübt wird.
    Diese Zensur, diese Verfolgung aller Menschen mit liberalen Ansichten, die Bücherverbrennungen und die Korruptheit der Universitäten hätten Deinen Widerspruch hervorgerufen, auch wenn keinem einzigen Angehörigen meiner Rasse ein Haar gekrümmt worden wäre. Du bist ein Liberaler, Martin. Du hast immer mit Weitblick gedacht. Ich weiß, daß Du Dich in Deiner klaren Geisteshaltung nicht von einer populistischen Strömung mitreißen läßt. Diese Volksbewegung hat, so stark sie auch sein mag, etwas abgrundtief Schlechtes an sich.
    Ich verstehe wohl, warum die Deutschen Hitler zujubeln. Sie reagieren auf die Ungerechtigkeiten, die sie seit dem Desaster des Krieges erlitten haben. Aber Du, Martin, hast seit dem Krieg im Grunde wie ein Amerikaner gelebt. Ich weiß, es war nicht mein Freund, der mir diesen Brief geschrieben hat. Es wird sich herausstellen, daß es nur die Stimme der Vorsicht und des Opportunismus war.
    Ungeduldig erwarte ich dieses eine Wort, das meiner Seele ihren Frieden zurückgeben wird. Schreibe schnell Dein »Ja«.
    Alles Liebe für Euch,
Max

Deutsch–Völkische Bank und Handelsgesellschaft,
München
    18. August 1933
    Mr. Max Eisenstein
Galerie Schulse-Eisenstein
San Francisco, Kalifornien, U.S.A.
    Lieber Max,
    ich habe Deinen Brief erhalten. Die Antwort lautet »Nein«. Du bist ein sentimentaler Mensch. Du willst nicht verstehen, daß nicht alle Menschen nach Deinem Muster geschnitten sind. Du beklebst sie mit netten, kleinen Schildchen, zum Beispiel »liberal«, und erwartest dann, daß sie sich entsprechend Deinen Vorstellungen verhalten. Aber Du täuschst Dich. So, ich soll also ein amerikanischer Liberaler sein? Nein! Ich bin ein deutscher Patriot.
    Ein Liberaler ist ein Mann, der nicht an die Tat glaubt. Ein Schwadronierer, der sich über die Menschenrechte ausläßt, aber nichts tut, außer darüber zu reden. Ein Liberaler macht gern viel Wind um die Redefreiheit, und was ist Redefreiheit? Nichts als die Möglichkeit, bequem auf seinem Hinterteil zu sitzen und zu behaupten, alles, was die tätigen Menschen unternehmen, sei falsch. Gibt es etwas Wirkungsloseres als die Liberalen? Ich kenne sie gut, die Liberalen, denn ich bin selbst einer gewesen. Sie verurteilen eine passive Regierung, weil sie nichts verändert. Aber laß einen starken Mann an die Macht kommen, laß einen tatkräftigen Mann mit den Veränderungen beginnen, wo ist er dann, Dein Liberaler? Er ist dagegen. Für einen Liberalen ist jede Veränderung die falsche.
    Er nennt das die »langfristige Perspektive«, aber es ist lediglich die schiere Angst, er müsse selbst etwas tun. Er liebt Worte und hochtönende Gebote, doch für die Männer, die die Welt zu dem machen, was sie ist, erweist er sich als nutzlos. Die Macher, das sind die einzig wichtigen Männer. Und hier in Deutschland ist ein Mann der Tat an die Macht gekommen. Ein energischer Mann, der die Dinge anpackt. Die Geschichte eines ganzen Volkes hat sich innerhalb einer Minute verändert, weil der Mann der Tat gekommen ist. Und ich schließe mich ihm an. Ich werde nicht bloß von einer Strömung mitgerissen. Ich schüttle das bedeutungslose Leben ab, das nur in Reden bestand und keine tätige Vollendung kannte. Ich richte mich auf und stelle mich mit meiner ganzen Kraft hinter die große, neue Bewegung. Ich bin ein Mann, weil ich handle. Davor war ich nur eine Stimme. Ich stelle den Zweck unseres Handelns nicht in Frage. Das ist nicht nötig. Ich weiß, es ist gut, weil es eine ungeheure Vitalität freisetzt. Menschen, die so viel Freude und Eifer verströmen, werden nicht in schlechte Dinge hineingezogen.
    Du sagst, wir verfolgten liberal denkende Menschen, wir plünderten Bibliotheken. Du solltest aus Deinen abgestandenen Sentimentalitäten erwachen.
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