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Adressat unbekannt

Adressat unbekannt

Titel: Adressat unbekannt
Autoren: Dorothee Böhm
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ich es könnte, aber ich kann nicht. Ich muß wissen, was ihr zugestoßen ist. Ich muß mir Gewißheit verschaffen.
    Sie ist eine Woche lang in dem Berliner Theaterstück aufgetreten. Dann wurde sie vom Publikum als Jüdin verhöhnt. Sie ist so dickköpfig, so tollkühn, das wunderbare Kind! Sie hat ihnen das Wort in ihre Münder zurückgeworfen. Sie sagte ihnen stolz, ja, sie sei Jüdin.
    Ein paar Zuschauer sprangen von ihren Sitzen auf und wollten sie ergreifen. Sie rannte hinter die Bühne. Jemand muß ihr geholfen haben, denn es gelang ihr, dem ganzen Pack, das ihr auf den Fersen klebte, zu entkommen. Einige Tage lang ist sie in einem Keller bei einer jüdischen Familie untergetaucht. Dann hat sie, soweit das möglich war, ihr Aussehen verändert und sich nach Süden aufgemacht. Sie hoffte augenscheinlich, sich zu Fuß zurück nach Wien durchschlagen zu können, denn sie wagte es nicht, die Eisenbahn zu benutzen. Sie sagte zu den Leuten, von denen sie sich verabschiedete, sie wäre in Sicherheit, wenn sie bei Freunden in München ankäme. Das ist meine Hoffnung, daß sie sich an Dich gewandt hat, denn in Wien ist sie nie eingetroffen. Schreib mir ein Wort, Martin, und wenn sie nicht zu Dir gekommen ist, ziehe doch einige vorsichtige Erkundigungen ein, sofern es in Deiner Macht steht. Ich finde keine Ruhe mehr. Ich quäle mich Tag und Nacht, sehe das tapfere kleine Ding mühselig all die vielen Kilometer durch ein feindliches Land wandern, und bald beginnt der Winter. Gott gebe, Du könntest mir ein Wort der Erleichterung senden.
    Max

Deutsch–Völkische Bank und Handelsgesellschaft,
München
    8. Dezember 1933
    Mr. Max Eisenstein
Galerie Eisenstein
San Francisco, Kalifornien, U.S.A.
    Heil Hitler! Ich bedaure sehr, Dir schlechte Nachrichten übermitteln zu müssen. Deine Schwester ist tot. Unglücklicherweise war sie – so wie Du selbst gesagt hast – wirklich verrückt. Vor knapp einer Woche kam sie hier an, verfolgt von einem Haufen SA-Leuten. Bei uns ging es sehr hektisch zu – seit der Geburt des kleinen Adolf im letzten Monat steht es um Elsas Gesundheit nicht zum besten. Der Arzt und zwei Krankenschwestern waren hier, alle Bediensteten und die Kinder hasteten durchs Haus.
    Wie der Zufall es will, bin ich es, der die Tür öffnet. Erst denke ich, eine alte Frau stünde vor mir, doch dann schaue ich ihr ins Gesicht, und dann sehe ich, daß die SA gerade durch das Parktor gerannt kommt. Kann ich sie verstecken? Die Chancen stehen eins zu tausend. Jeden Moment kann einer der Angestellten herbeieilen. Kann ich es verantworten, daß das Haus durchsucht wird, während Elsa krank im Bett liegt? Kann ich es wirklich riskieren, festgenommen zu werden und alles zu verlieren, was ich hier aufgebaut habe, weil ich einer Jüdin Unterschlupf gewähre? Natürlich habe ich als Deutscher eine unmißverständliche Pflicht. Sie hat auf der Bühne ihren jüdischen Körper vor reinen, jungen deutschen Männern zur Schau gestellt. Ich sollte sie festhalten und dem SA-Trupp übergeben. Aber das bringe ich nicht über mich.
    »Du wirst uns alle ins Verderben stürzen, Griselle«, sage ich zu ihr. »Lauf zurück, tiefer in den Park hinein.« Sie schaut mich an, lächelt (sie war immer ein tapferes Mädchen) und trifft ihre eigene Entscheidung.
    »Ich will dir keinen Schaden zufügen, Martin «, sagt sie und rennt die Stufen hinunter und dann auf die Bäume zu. Aber sie muß müde gewesen sein. Sie läuft nicht sehr schnell, und die Männer der SA haben sie entdeckt. Ich bin hilflos. Ich gehe ins Haus, und nach wenigen Minuten hört sie auf zu schreien. Am nächsten Morgen habe ich den Leichnam ins Dorf zur Beisetzung bringen lassen. Es war verrückt von ihr, nach Deutschland zu kommen. Arme kleine Griselle. Ich trauere mit Dir, aber wie Du sehen kannst, war ich außerstande, ihr beizustehen.
    Ich muß Dich nun ernsthaft bitten, keinen Kontakt mehr mit mir aufzunehmen. Jedes Schreiben, das zu Hause eintrifft, wird von der Zensur geprüft, und ich vermag nicht zu sagen, wann sie beginnen, auch die Briefe an die Bank zu öffnen. Und ich werde auch keine Geschäfte mehr mit Juden machen, mit Ausnahme der Geldeingangsbestätigung. Es ist für mich nicht gut, daß eine Jüdin zu mir geflüchtet ist, um Unterschlupf zu finden. Weitere Verbindungen sind inakzeptabel.
    Ein neues Deutschland beginnt Gestalt anzunehmen. Unter unserem glorreichen Führer werden wir der Welt bald großartige Dinge zeigen.
    Martin

MUENCHEN, 2. JANUAR
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