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Adressat unbekannt

Adressat unbekannt

Titel: Adressat unbekannt
Autoren: Dorothee Böhm
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treuer
Max

Deutsch–Völkische Bank und Handelsgesellschaft,
München
    9. Juli 1933
    Mr. Max Eisenstein
Galerie Schulse-Eisenstein
San Francisco, Kalifornien, U.S.A.
    Lieber Max,
    wie Du sehen kannst, schreibe ich auf dem Geschäftspapier meiner Bank. Dies ist notwendig, denn ich habe eine Bitte an Dich und möchte dabei die neue Zensur umgehen, die äußerst streng ist. Wir müssen für den Augenblick aufhören, uns zu schreiben. Selbst wenn ich kein offizielles Amt bekleidete, wäre es für mich unmöglich, mit einem Juden zu korrespondieren. Sollte ein Kontakt unumgänglich sein, dann lege den Brief den Bankauszügen bei. Schreibe mir nicht mehr an meine Privatadresse.
    Was die strikten Maßnahmen betrifft, die Dich so mit Sorge erfüllen: Ich mochte sie zu Beginn auch nicht, doch ist mir inzwischen ihre schmerzliche Notwendigkeit klargeworden. Die jüdische Rasse ist ein Schandfleck für jede Nation, die ihr Unterschlupf gewährt. Ich habe niemals den einzelnen Juden gehaßt – ich habe Dich immer als einen Freund geschätzt, aber Du weißt, daß ich mit aller Aufrichtigkeit spreche, wenn ich sage, daß ich Dir nicht wegen, sondern trotz Deiner Rasse gewogen war.
    Der Jude ist überall und zu allen Zeiten der Sündenbock. Das geschieht nicht ohne Grund, und ich meine damit nicht den alten »Christusmörder«- Aberglauben, der das Mißtrauen gegen die Juden nährt. Im übrigen ist dieser Ärger mit den Juden letztlich nur eine Nebensache. Etwas viel Größeres ereignet sich gerade.
    Wenn ich sie Dir nur zeigen, wenn ich sie Dir nur vor Augen führen könnte – die Wiedergeburt dieses neuen Deutschland unter unserem gütigen Führer! Die Welt kann nicht auf ewig ein großes Volk unterdrücken und unterjochen. Vierzehn Jahre lang haben wir unseren Kopf unter der Schmach der Niederlage gebeugt. Wir haben das bittere Brot der Scham und die dünne Suppe der Armut gegessen. Aber jetzt sind wir freie Menschen. Wir erheben uns in voller Kraft und senken nicht länger unseren Blick vor den anderen Nationen. Wir reinigen unseren Blutstrom von den minderwertigen Elementen. Singend wandern wir durch unsere Täler, und unsere starken Muskeln erbeben, wenn es neue Aufgaben zu bewältigen gilt – und von den Bergen ertönen die Stimmen Wodans und Thors, der alten, starken Götter der nordischen Rasse.
    Aber nein. Während ich dies schreibe und spüre, wie mein Enthusiasmus für die neuen Visionen entflammt, weiß ich zugleich, daß Du nicht verstehen wirst, wie notwendig all das für Deutschland ist. Du wirst nichts anderes sehen, als daß Dein Volk in Bedrängnis ist. Du wirst nicht einsehen, daß einige wenige leiden müssen, damit Millionen gerettet werden. Du bist in erster Linie Jude und wirst um Dein Volk jammern. Das verstehe ich. Das liegt in der Natur des semitischen Charakters. Ihr lamentiert immer, aber ihr seid niemals tapfer genug, zurückzuschlagen. Deshalb gibt es Pogrome.
    Ach ja, Max, ich weiß, das wird Dir weh tun, aber Du mußt der Wahrheit ins Gesicht schauen. Es gibt Bewegungen, die sind weit größer als die Männer, die sie tragen. Und ich bin ein Teil dieser Bewegung. Heinrich ist Pimpf in einem Jungzug, der von Baron von Freische geführt wird. Von Freisches Rang verleiht unserem Haus jetzt Glanz. Er ist häufig zu Gast bei uns und besucht Heinrich und Elsa, die er sehr bewundert. Ich selbst stecke bis über beide Ohren in Arbeit. Elsa kümmert sich wenig um Politik, nur unseren großen Führer verehrt sie zutiefst. Seit einem Monat fühlt sie sich rasch erschöpft. Vielleicht waren die Pausen zwischen den Schwangerschaften zu kurz. Es wird ihr sicher bessergehen, wenn das Kind geboren ist.
    Ich bedaure es sehr, daß unser Briefwechsel auf diese Weise sein Ende findet, Max. Vielleicht begegnen wir uns eines Tages wieder auf einem Terrain, auf dem wir ein besseres gegenseitiges Verständnis entwickeln können.
    Wie immer Dein
Martin Schulse

GALERIE SCHULSE-EISENSTEIN
SAN FRANCISCO, KALIFORNIEN, U.S.A.
    1. August 1933
    Herrn Martin Schulse
(durch freundliche Übermittlung von J. Lederer)
Schloß Rantzenburg
München, Deutschland
    Martin, mein alter Freund,
    ich übergebe diesen Brief den treuen Händen Jimmy Lederers, der auf seiner Europareise in Kürze in München Station machen wird. Ich finde nach dem letzten Brief, den Du mir geschickt hast, keine Ruhe mehr. Diese Worte klangen so wenig nach Dir, daß ich den Inhalt nur Deiner Angst vor der Zensurstelle zuschreiben kann. Der Mann, den ich wie
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