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Adressat unbekannt

Adressat unbekannt

Titel: Adressat unbekannt
Autoren: Dorothee Böhm
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wie zuvor. Nun ja, wir sind alle in der gleichen Tretmühle gefangen. Wir sind eitel und unehrlich, weil es notwendig ist, über andere eitle und unehrliche Menschen zu triumphieren. Wenn ich Mrs. Fleshman nicht unseren Schund verkaufe, wird ihr jemand anderes noch schlimmeren aufschwatzen. Wir müssen diese Zwänge akzeptieren.
    Aber es gibt ein anderes Reich, in dem wir etwas Wahres finden können, die behagliche Atmosphäre im Haus eines Freundes, wo wir unsere kleinen Überheblichkeiten ablegen und Warmherzigkeit und Verständnis finden, wo billige Selbstsucht keinen Platz hat und Bücher, Wein und Gespräche dem Leben eine andere Bedeutung geben. Dort ist uns etwas gelungen, an das keine Falschheit heranreicht. Wir sind zu Hause.
    Wer ist dieser Adolf Hitler, der in Deutschland augenscheinlich an die Macht strebt? Was ich über ihn lese, mag ich gar nicht.
    Umarme die kleinen Strolche und unsere wunderbare Elsa von mir.
    Wie immer herzlich
Dein Max

SCHLOSS RANTZENBURG
MÜNCHEN, DEUTSCHLAND
    25. März 1933
    Mr. Max Eisenstein
Galerie Schulse-Eisenstein
San Francisco, Kalifornien, U.S.A.
    Lieber alter Max,
    Du hast bestimmt von den neuen Ereignissen in Deutschland gehört und wirst wissen wollen, wie es sich für uns aus der Innensicht darstellt. Um die Wahrheit zu sagen, Max, ich glaube, daß Hitler in einiger Hinsicht gut für Deutschland ist, aber sicher bin ich mir nicht. Er führt nun als Kanzler die Regierungsgeschäfte, und ich denke, selbst Hindenburg könnte ihn jetzt nicht mehr stürzen, da er ja gewissermaßen gezwungen war, ihn an die Macht zu bringen. Der Mann ist wie ein elektrischer Schock, so stark, wie nur ein begnadeter Redner oder ein Fanatiker es sein kann. Aber ich frage mich, ob er richtig im Kopf ist. Seine Braunhemden sind nichts als Pöbel. Sie plündern und haben mit böser antijüdischer Hetze begonnen. Aber vielleicht sind dies nur Nebensächlichkeiten, der leichte Schaum an der Oberfläche, der entsteht, wenn eine große Bewegung zu sieden beginnt. Denn ich sage Dir, mein Freund, da ist eine Woge – eine mächtige Woge. Überall haben die Menschen eine Art Beschleunigung erfahren. Du spürst es auf den Straßen und in den Geschäften. Sie haben die alte Verzweiflung abgestreift wie einen zerschlissenen Mantel. Die Menschen hüllen sich nicht länger in ihre Scham ein; sie haben wieder Hoffnung. Vielleicht wird diese Armut ein Ende haben. Irgend etwas – ich weiß nicht, was – wird geschehen. Ein Führer ist erkoren! Gleichwohl stelle ich mir selbst vorsichtig die Frage: ein Führer wohin? Überwundene Verzweiflung treibt die Menschen oftmals in törichte Richtungen.
    Vor anderen Leuten äußere ich selbstverständlich keine Zweifel. Ich bin jetzt im öffentlichen Dienst und arbeite in der neuen Regierung. Also zeige ich mich lauthals erfreut. Von den Beamten treten alle, die ihre heile Haut zu schätzen wissen, schleunigst den Nationalsozialisten, der NSDAP, bei. Das ist der Name von Herrn Hitlers Partei. Aber das geschieht nicht nur aus Berechnung, da ist mehr, ein Gefühl, daß wir Deutschen unsere Bestimmung gefunden haben und die Zukunft in einer überwältigenden Welle auf uns zurollt. Wir müssen uns auch bewegen. Wir müssen mit ihr gehen. Auch jetzt geschieht noch Unrecht. Die SA-Trupps feiern im Augenblick Siege; blutig geschlagene Gesichter und gebrochene Menschen legen davon ein trauriges Zeugnis ab. Aber diese Dinge gehen vorüber. Wenn das Ziel am Ende richtig ist, verschwinden sie und sind vergessen. Die Geschichte wird auf ein weißes, neues Blatt geschrieben werden.
    Die einzige Frage, die ich mir stelle – und nur Dir mitteile, niemand anderem hier kann ich mich anvertrauen –, lautet: Ist das Ziel richtig? Ist die Leitidee, der wir folgen, besser als eine andere? Denn Max, Du weißt, daß ich die Menschen meiner Rasse beobachtet habe, seit ich wieder in diesem Land bin, daß mir klargeworden ist, welche Qualen sie durchlitten haben, welche Jahre, in denen das Brot immer knapper wurde und ihre Körper abmagerten und sie schließlich jegliche Hoffnung begruben. Sie steckten bis zum Hals im Treibsand der Verzweiflung. Sie waren dem Sterben nahe, doch dann kam ein Mann, reichte ihnen die Hand und zog sie heraus. Alles, was sie jetzt wissen, ist, sie werden nicht sterben. Sie befinden sich in einem hysterischen Befreiungsrausch, sie beten ihn beinahe an, diesen Mann. Doch jedem anderen Retter gegenüber hätten sie sich genauso verhalten. Dem Herrn sei Dank, daß es
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