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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel
Autoren: Rose Tremain
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mich, ein Vater, der in seiner Güte beschlossen hat, über meine Unzulänglichkeiten hinwegzusehen und mich für einen ehrenwerten Mann zu halten.
    Was also soll ich tun?
    Wenn ich Will seine Vorrangstellung in der Hierarchie der Bediensteten von Bidnold Manor nehme und ihn mit leichteren Pflichten betraue, solchen, die ein einfacher Lakai gut erledigen kann, weiß ich, dass ihn der Schmerz der Degradierung ins innerste Herz treffen wird. Er wird daraus schließen, dass ich ihn nicht mehr schätze. Die Liebenswürdigkeit seiner Natur wird sich in Bitterkeit denen gegenüber verkehren, die ihm dann im Rang überlegen sind.
    Wenn ich ihn zu mir rufe und ihm erkläre, dass ich wünsche, er möge es sich fortan bequem machen und keiner Arbeit mehr nachgehen, sondern hier in meinem Hause in ehrenvollem Ruhestand leben, alle pekuniären Bedürfnisse würde ich begleichen – wird er vielleicht vor mir auf die Knie fallen, mich segnen, Tränen der Dankbarkeit vergießen und mir erklären, es lebe und atme in dieser Welt kein freundlicheres Wesen als ich, Sir Robert Merivel.
    Doch auch wenn ich gestehe, dass ich mir diese Szene gerne vorstelle – meinen armen alten Diener, der vor mir auf den Knien liegt, als wäre ich der König höchstselbst, mit all seiner unermesslichen Macht, so sehe ich doch leider auch großes Ungemach voraus, das aus einer anderen Quelle entspringen würde, namentlich dem Rest meines Haushalts, eingeschlossen Cattlebury, der Will in Alter und geistiger Verwirrtheit kaum nachsteht und mich in Schrecken versetzt mit seinen gelegentlichen sehr heftigen aufrührerischen Ausbrüchen, bei denen er sich in blasphemischen Reden gegen den Monarchen und die Stuartdynastie und all ihre Taten gefällt.
    Tatsächlich befürchte ich, dass ich zur Zielscheibe einer eifersüchtigen Meuterei werden könnte, dass man mir meine Ungerechtigkeit vorwerfen würde und meine mangelnde Anerkennung für Cattlebury, aber auch für die Hausmädchen, Diener, Waschfrauen, Holzknechte, Stallburschen und Küchenmädchen et cetera, et cetera. Und dann sehe ich im Geiste eine furchtbare Phalanx all meiner Bediensteten (ohne die dieser Haushalt schon bald im Chaos versinken würde) den Weg zum Tor hinaus marschieren und verschwinden, während ich zurückbleibe, allein, bis auf Will, für den ich, binnen kurzem, zur Krankenschwester werden würde … und auf diese Weise eine weitere zwar anständige, aber verdrießliche Drehung auf dem Rad des Schicksals vollzogen hätte.
    Besser, sage ich zu mir, verhärte ich mein Herz und lasse Will seinen einsamen Abgang machen, »Arbeitshaus« wird auf seinem Rücken geschrieben stehen. Doch auch bei dieser Vorstellung schnappt die Falle zu. Denn ich habe die Arbeitshäuser gesehen. Wahrlich, das habe ich. Es sind nicht nur kalte und ungastliche Orte, voller Ungeziefer und Lärm und Gestank, sie müssen auch, laut Gesetz, ihrem Namen gerecht werden und verlangen deshalb von ihren Bewohnern, dass sie arbeiten . So schließt sich denn der schreckliche Kreis, und wir landen wieder bei der einen Sache, die Will Gates kaum noch leisten kann: Arbeit.
    Ich frage erneut: Was soll ich tun?
    Ich kann Will nicht zum Betteln auf die Wege und Felder Norfolks schicken. Er hat keine Familie (und auch, so weit ich feststellen kann, nie gehabt), die ihn aufnehmen könnte. Und so beschließe ich, dass mir nur – wie bei so vielen verdrießlichen Dingen dieses Lebens – eines bleibt, nichts zu tun , in der vergeblichen Hoffnung, dass die Angelegenheit Will sich irgendwie auf natürlichem Wege löst.
    Doch kaum kommt mir der Gedanke, dass Will vielleicht bald stirbt , schon ergreift mich ein Gefühl äußerster Panik, und ich verlange, dass Will sofort zu mir in die Bibliothek geschickt wird, damit ich mich vergewissern kann, dass er noch nicht tot ist.
    Zwischen meinem Befehl und Wills Erscheinen an meiner Tür vergeht einige Zeit. Und während es dauert – aufgrund der Langsamkeit, mit der Will sich bewegt –, fällt mein Auge wieder auf das Buch, das auf meinem Sekretär liegt, und ich erinnere mich, dass seine Seiten zahlreiche Berichte von Wills Liebenswürdigkeiten enthalten, wie ich wegen einer Audienzbeim König in aller Eile und ohne Nachtmahl nach London reiten musste, zum Beispiel, und wie Will zwei gebratene Wachteln in die Tasche meines Reitmantels steckte und eine Flasche Weißwein an den Sattel meiner Stute Danseuse band, ohne welche Mahlzeit ich womöglich in Ohnmacht gefallen wäre, als ich
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