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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel
Autoren: Rose Tremain
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Hände sehen kann, die einen Gegenstand umschließen, es ist eine blauweiße Suppenkelle aus Porzellan. Sein Name ist John Pearce.

2
    Ich kann an John Pearce nicht denken ohne das Gefühl, beinahe ersticken zu müssen. Aus diesem Grunde bemühe ich mich nach Kräften, überhaupt nicht an ihn zu denken. Doch dies gelingt mir nicht immer.
    Einst war er mein Freund und Kommilitone an der Medizinischen Fakultät in Cambridge. Sein Leben lang war er der Religion der Quäker verbunden, weshalb ich ihn sehr häufig neckte, in der Hoffnung, ich könnte in die düstere Landschaft seiner Gesichtszüge ein kleines Lächeln gravieren oder vielleicht sogar sein Lachen vernehmen, ein bemerkenswert krächzendes Geräusch, fast wie das Knarzen eines Ochsenfrosches.
    Obgleich Pearce mir viele Freundlichkeiten erwies, weiß ich heute, dass er mich mit all meinen unbeherrschbaren Begierden, meinem Spott über die Welt und meinen gescheiterten Versuchen, die beständige Melancholie zu besiegen, in Wahrheit nie von Herzen geliebt hat.
    Als er mich hier auf Bidnold besuchte, blickte er sich um, betrachtete mein scharlachfarbenes und goldenes Mobiliar, meine vergoldeten Spiegel, meine Gobelins und Marmorstatuetten und meine Sammlung von Zinngeräten und erklärte mir, dieser Luxus werde meine »Lebensflamme auslöschen«. Und als ich gemeinsam mit Will siebenunddreißig Stunden an Pearce’ Bett wachte, nachdem ein Fieber ihn niedergestreckt hatte, empfing keiner von uns beiden auch nur irgendeinen Dank von ihm.
    Dennoch war es Pearce, zu dem ich ging, als der König es für angeraten hielt, mich aus dem Paradies zu werfen, in welches er mich zuvor versetzt hatte.
    Ich war bestrebt, mich in dem Irrenhaus der Quäker in Whittlesea nützlich zu machen, wo Pearce und seine Freunde einigen jener Menschen Hilfe gewährten, die unter der Last der Welt wahnsinnig geworden waren. Doch die Torheiten, die ich dort beging, waren sehr groß, und als bekümmere ihn all das, was ich mir an Ausschweifung und Dummheit leistete, brütete Pearce’ schwächlicher Körper eine sehr hitzige Schwindsucht aus, an der er schließlich starb.
    Wir legten blühende Birnenzweige in seinen Sarg. In die Hände gab ich ihm die blauweiße Suppenkelle aus Porzellan, an der er leidenschaftlich hing, weil sie das einzige Erinnerungsstück war, das seine Mutter ihm hinterlassen hatte. Dunkle Moorerde wurde über ihm aufgehäuft.
    Von Zeit zu Zeit besuche ich Pearce’ Grab. Als sie neun oder zehn Jahre alt war, nahm ich meine geliebte Tochter Margaret mit mir, um sie den Quäker-Freunden vorzustellen, die so liebenswürdig zu mir gewesen waren. (Margaret ist und war immer schon ein sehr schönes Kind, mit glatter, heller Haut, einer Überfülle feuriger Locken und einem Grübchenlächeln von großer Anmut.) Ich bin maßlos stolz auf sie.
    Als wir zu dem Fahrdamm kamen, der als Earls Bride bekannt ist und zu dem Ort führt, wo einst das Irrenhaus-Spital stand, sah ich sofort, dass die Gebäude verlassen waren. Das umgebende Gelände war verwildert, und keine Menschenseele wohnte noch dort. Wir stiegen aus der Kutsche, und ein wütender eisiger Wind empfing uns. Ich nahm Margaret bei der Hand und führte sie in das erste der Gebäude, in dem noch einige Strohmatratzen lagen, und ich sah, wie sich ihre Augen in Staunen und Verwirrung weiteten, und sie sagte zu mir: »Papa, wo sind denn all die Menschen hin? Sind sie ertrunken?«
    »Margaret«, sagte ich, »ich weiß es nicht. Aber mir scheint, sie sind fort.«
    Und das brachte mich in Verlegenheit. Ich hatte geplant,Margaret in der Obhut der Quäker-Wärter zu lassen und mich für eine kurze Weile an Pearce’ Grab zu begeben. Ich wünschte nicht, dass sie seinen traurigen Erdhügel sah (denn noch hatte der Tod keinen Eingang in ihre unschuldige Seele gefunden), und doch widerstrebte es mir, nach dieser langen Reise wieder umzukehren, ohne einen Augenblick unter freiem Himmel im stillen Gespräch mit meinem toten Freund verbracht zu haben.
    Ich stolperte mit Margaret über das Feld, wo das Unkraut wild und hoch wucherte, und zeigte ihr die knorrige Eiche im Hof, unter der ich einst auf meiner Oboe und mein junger Freund David auf seiner Fiedel spielte und wir allesamt – die Wärter und die Wahnsinnigen – eine Tarantella tanzten –, aber ich sagte ihr nicht, dass ihre Mutter eine der Wahnsinnigen gewesen war.
    »Was ist eine Tarantella?«, fragte Margaret.
    »Oh«, sagte ich, »das ist ein wild wirbelndes Gehopse, es geht
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