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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj
Autoren: Tauben flieggen auf
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früher
wahrscheinlich die Bauern der umliegenden Region ihre Waren angeboten haben,
auf dem sicher einmal ein Lindenbaum stand, der, wenn er im Juni blühte, allen
strengen Ordnungshütern den Kopf verdrehte, und ich, die allein auf dem Dorfplatz
steht, höre das gleichmässige Plätschern des Dorfbrunnens, vielleicht hätte das
Opfer grösser sein müssen, vielleicht wäre es besser gewesen, ihr hättet noch
ein paar Jahre länger auf uns gewartet, Vater, der mich mit sehenden Augen
anschaut, Mutter, die von ihrem Hocker aufsteht, was willst du uns damit
sagen? Nomi und ich haben uns nie entschieden, hierher zu kommen, nur das; und
Mutter, die die Klammer aus ihrem Haar löst, sie an die Brusttasche ihrer Bluse
klemmt, Vater, der den Schwamm hinter sich ins Spülbecken wirft, da haben wir
es, sagt Vater, deine Mutter hat ganz Recht, wenn sie dich an den Krieg
erinnert, stell dir mit deinem Dickschädel nur kurz vor, was das bedeuten
würde, und ich, die sagt, dass es nicht darum gehe, ich will unsere Verschiedenheit
verstehen, und mir fällt das ungarische Wort für "Verschiedenheit"
nicht ein, aber die plötzliche Klarheit darüber, warum man, wenn jemand gestorben
ist, sagt, er sei "verschieden", der schwere Stand der
Verschiedenheit, denke ich, gehe auf den Polizeiposten zu, vergitterte Türen
und Fenster, hallo, ist jemand da, rufe ich, unsinnigerweise, ich klopfe gegen
das Schaufenster, wo ein paar Steckbriefe an Magnetknöpfen hängen und amtliche
Hinweise der Gemeinde- und der Kantonspolizei, und ich, die sich vorstellt,
dass sich Herr Bieri und Herr Brunner, die beiden Dorfpolizisten, die
gleichzeitig für die Gesundheitsbehörde arbeiten, hinter den eisernen Vorhängen
verschanzt haben, auf ihren gefederten Stühlen herumturnen, sich mit geröteten
Wangen die schönsten Fahndungsbilder zeigen, in der sonntäglichen Ruhe ein
paar Informationen über gewisse Personen ablegen, warum sagt man eigentlich "Anzeige
erstatten"? Herr Bieri und Herr Brunner, die mir diese Frage sicher
beantworten könnten, hallo!, meine Stimme, die über den menschenleeren Platz
hallt, meine Wut, die vor dem Polizeiposten wieder ein Gesicht bekommt, die
Schärers oder der Tognoni oder jemand anders, höre ich Mutter sagen, bringt
nichts, sich zu fragen, wer es gewesen sein könnte, ausserdem: Wir sind ein
Familienbetrieb, wenn jemand einen Fehler macht, müssen alle den Kopf hinhalten,
und: Du solltest die Gäste nicht vergessen, die uns mögen, uns unterstützen -
ich habe niemanden vergessen!, sage ich laut, und wir verkeilen uns
ineinander, unser gegenseitiges Unverständnis, wir müssen uns anpassen, sagt
Mutter mit diesem Blick, den ich nicht mehr sehen will, an die Scheisse?,
schreie ich, und wo fängt der Widerstand an? Dein Verstand hockt manchmal am
falschen Ort, Ildi, schreit Vater zurück und macht plötzlich einen Schritt auf
mich zu, packt meine Hand, zieht mich durch die Küche, am Buffet vorbei, seine
ungarischen Flüche, die er in den Gastraum schleudert, nur damit du wieder
klar siehst, ruft er, als er im Büro die Schranktür aufreisst, nach seiner
Jacke langt, hier, lies! Vater, der mir einen Brief hinstreckt, ein schmales
Kuvert, und seine Hände, die zittern, ein Brief von deiner Schwester! Ich
schaue auf die Briefmar ken, auf Vaters breite Finger, für die der Umschlag zu
schwer zu sein scheint, was ist mit Janka, wie geht es ihr, frage ich Vater mit
einer Stimme ohne Klang, und ich schaue ihn nicht an, nehme den Brief nicht
entgegen. Wie es ihr geht?, gut, es geht ihr ausgezeichnet, wie soll es einem
Menschen gehen, der sein ganzes bisheriges Leben von einem Tag auf den anderen
aufgeben muss? Sie ist mit ihrem Mann und ihrem Kind nach Ungarn geflüchtet,
weil ihr Mann auch als Soldat vorgesehen war, bei der jugoslawischen
Volksarmee!, und weil ihre Arbeit beim Radio ständig zensuriert wurde! Vater,
der den Brief wieder einsteckt, nein, ich müsse ihn gar nicht lesen, das
Wichtigste sei ja jetzt gesagt und das Zweitwichtigste, Ildi: Nichts ist mehr
so, wie es war, in Jugoslawien, die Männer werden eingezogen, wer sein Hirn
noch beieinander und die Möglichkeit hat, der flüchtet, und was meinst du, wie
es in der Stadt aussieht, wenn so viele Menschen nicht mehr da leben, wo sie
hingehören? Jedes dritte Haus steht leer, weisst du, was das bedeutet, wenn
nur noch der Friedhof wächst? — Und ich, die zum Brunnen geht, einen Schluck
Wasser trinkt, sich das Gesicht wäscht, muss trotzdem etwas tun, ich mache
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