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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj
Autoren: Tauben flieggen auf
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dreht, zu
Schaufenstern hin, ein paar Wollknäuel, Stricknadeln, ein mit "Handarbeit"
angeschriebener Pullover, ein paar Spots, die diese kleine Szenerie
ausleuchten, wir würden uns bestimmt nicht mit Kleinkram herumschlagen, es
ginge täglich um Leben und Tod! Mutter, die sich bekreuzigt, ist das eine
Kleinigkeit, wenn jemand seine eigene Scheisse in die Hand nimmt, um sie dann
in einer öffentlichen Toilette an die Wand zu schmieren, frage ich das
Schaufenster links von mir, in dem Schulhefte ausgestellt sind, Farbstifte,
Zirkel in unterschiedlichen Grössen, die Frage, wie man Papier sinnvoll oder
wirkungsvoll ausstellen kann, ein Tornister, der an einem Nagel hängt, zwei Katzenaugen,
die hinter dem Glas orange leuchten, Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen
können, weil die Eltern kein Geld haben, fürs Busticket, und du, Ildi, du
könntest deine Ausbildung ziemlich sicher nicht machen, sondern müsstest
mithelfen im Schweinestall, Kühe melken, wahrscheinlich müss test du sogar Männerarbeit
machen, du weisst ja, was mit den Männern passiert; und ich, die weitergeht,
lasse die Frage hinter mir, ob eine Unterführung ein geeigneter Ort ist für
Schaufenster, Mutters Augen, die mich bitten, sie nicht falsch zu verstehen,
wenn sie mich jetzt an den Krieg erinnere, aber sie tue das, weil ich den
grösseren Zusammenhang zu verlieren drohe, sie müsse mir doch sagen, dass wir
hier in Sicherheit lebten, immerhin ein Geschäft führten, und da sei es
notwendig, nicht alles an sich herankommen zu lassen, sonst wären wir ja schon
lange nicht mehr hier, sagt Mutter. Wie meinst du das?, und ich steige die
Stufen hoch, zwei Stufen auf ein Mal, überquere den Parkplatz, auf dem nur ein
paar vereinzelte Autos stehen, Sonntag in einem Dorf, ein ausgestorbener
Sonntagvormittag in einem Dorf, und ich, die eine Münze in eine Parkuhr wirft,
um dieses angenehme Geräusch zu hören, wenn die Münze den roten Zeiger wieder
auf Null stellt; was meinst du, wie oft haben wir doppelt so viel gearbeitet
wie unsere Arbeitskollegen, für weniger Lohn, und das ginge ja noch, die
lauwarme Kotze von Hündchen wegzuwischen, das gehörte zum Alltag deines Vaters,
als er als Kellner gearbeitet hat, in einem noblen Restaurant, Miklós, das
solltest du Ildi erzählen! Die einzige Chance ist, sich hochzuarbeiten, und
das, glaub mir, gelingt dir nicht, wenn du dich nicht taub oder dumm stellst.
Ich dürfe sie nicht falsch verstehen, wenn sie sage, dass ich es nicht gewohnt
sei, Opfer zu bringen, Opfer? Ja, schweigen können, Sachen wegstecken, und wenn
hinhören, dann eben nur mit halbem Ohr; hätten dein Vater und ich eine richtige
Ausbildung, könnten wir viel leicht — dann hätten wir die Möglichkeit, den Mund
aufzumachen, aber so? Weisst du eigentlich, wo wir angefangen haben?, die
gesichtslosen Tage, fast vier Jahre lang, als die Tage nur dazu da waren, um
wie Automaten zu funktionieren, zu arbeiten, Vater als Metzger bei Herrn Fluri
und als Metzger auf dem Schlachthof, ich als Kassiererin, Kindermädchen, und
sonntags haben wir gemeinsam Banken geputzt. In dieser Zeit, Ildi, habe ich nie
geträumt, nie, sonst wäre ich verloren gewesen, und ich gehe weiter, an der
Apotheke vorbei, überquere eine Strasse, zu meiner Rechten das
Einkaufszentrum, zu meiner Linken ein Kleidergeschäft, dann ein Kiosk, ein
Strumpfgeschäft, ein Hotel, gibt es ein Opfer, das zu gross ist?, und jemand
winkt mir zu, von der anderen Strassenseite her, ich gehe weiter, ohne
zurückzuwinken, am Schuhgeschäft vorbei, an einem Schaufenster, in dem
Brillengestelle an durchsichtigen Fäden hängen. Als ihr, Nomi und du, so lange
Zeit nicht bei uns wart, das war ein grosses Opfer — zu gross?, und ich hebe
meinen Kopf, schaue zur protestantischen Kirchturmuhr, die Zeiger, die goldgelb
leuchten; Vater, der sich mit dem Schwamm in der Hand zu mir dreht, Wasser, das
auf den Linoleumboden tropft, ihr wart in guten Händen, sagt Vater, ohne die
Lippen zu bewegen, das Restaurant Löwen, das sonntags geschlossen ist, und ich,
die vor dem kleinen Schaukasten stehen bleibt, studiere die Speisekarte, die
Preise, die Auswahl, wie sieht wohl ein "Ross-Filet-Zauber" aus?, und
ich gehe weiter, schlage den Kragen meiner Jacke hoch, vor mir das
Gemeindehaus, das Polizeirevier, die protestantische Kirche, stimmt, sage ich,
wir waren in guten Händen!, die beiden Tannen neben der Kirche, die den Turm
überragen, immergrüne Pflanzen, denke ich, der Dorfplatz, auf dem
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