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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj
Autoren: Tauben flieggen auf
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Kaffeesatz liest, und
die Zukunft, sie ist nicht gross und schwer und bedeutsam, sondern leicht,
morgen bekommst du unerwarteten Besuch, ein Unbekannter wird dir ein Geschenk
bringen oder: Hier, siehst du, diese Linie hier sagt, dass wir den Hühnern
heute Abend mehr Futter geben müssen; was ist mit dir los, Ildi, ich, die auf
den Boden ihrer Tasse schaut, ich spreche mit den Toten, sage ich und hebe
meinen Kopf, schaue Mutter an, Vater, Mutter, die ihre Hand auf die Liste legt
mit den Zahlen, ich verbringe ab jetzt meine Zeit mit den Toten, sage ich, weil
Vater und Mutter schweigen, bist du müde, hast du nicht gut geschlafen, fragt
Mutter, mit ihren schönen Augen, die besorgt aussehen; ich weiss schon, dass
man mit den Toten nicht sprechen kann, aber sie hören zu, sie hören gern zu,
und sie lieben schöne Stimmen, überhaupt lieben die Toten das Schöne. Vater,
der anfängt zu husten, Mutter, die ihm auf den Rücken klopft, mit der flachen
Hand, auf die Stelle zwischen den Schulterblättern. Wo bin ich denn hier, sagt
Vater nach seiner Hustenattacke, kann mir jemand erklären, was hier los ist, Ildi,
was redest du da, und ich, die aufsteht, mit der Tasse, verschwinde hinter der
Theke, um einen Kaffee einzuspannen, und ich bleibe da stehen, hinter der
grünen Theke, Mutter und Vater, die mich mit fragenden Blicken anschauen, ich
will nicht mehr hier arbeiten, sage ich - Vater, der Mutters Hand nimmt, den
Kopf schüttelt, kannst du mir meine Tochter erklären?
    Alles wegen mir, sagt Mutter
nach einer kurzen Pause, sie ist wütend auf mich, und ich, die einen Schluck
schwarzen Kaffee nimmt, bin überrascht, dass Mutter genau weiss, worum es geht;
los, Ildi, erzähl schon, darauf willst du doch hinaus, oder? Erzähl du,
antworte ich, und mir fällt auf, wie still es heute ist im Mondial, die
Vitrine, die nicht surrt, die Lüftung, die nicht in Betrieb ist, und ich sehe
meine Zukunft vor mir, in einem imaginären Kaffeesatz, eine winzige Wohnung in
der Stadt, in einem schiefen, grünen Haus, das Namensschild, das ich nicht
überklebe mit meinem Namen, und wenn, dann erst viel später, I. Kocsis, Ildikö
Kocsis oder nur Kocsis auf ein Stückchen Papier schreiben möchte, und ich werde
mich wochenlang nicht aus meiner Wohnung bewegen, in der Küche sitzen, die
Küche mit Speisekammer, Schützstein, mit einem schönen Fenster, ich werde da
sitzen und zuschauen, wie das Licht durch das schöne Fenster fällt.
    Gestern hat jemand, wie soll
ich sagen, im Klo eine Schweinerei hinterlassen, und Mutter deutet mit ihrer
Hand Richtung Toilette, Ildi, willst du dich nicht wieder zu uns setzen? Nein,
und Vater dreht an seinem Schnauzhaar, was für eine Schweinerei? Irgendjemand
hat daneben gemacht, sagt Mutter — irgendjemand hat nicht nur daneben gemacht,
sondern seine verkackte Unterhose ausgezogen und fein säuberlich neben die
Toilette gelegt, vor allem hat dieser Jemand die Wände mit Scheisse
verschmiert, sage ich und platziere ein Wort neben das andere; das habe ich
allerdings nicht gesehen, sagt Mutter, hast du nicht, antworte ich gereizt,
weil ich die Wand schon geputzt hatte, als du reingekommen bist. Ach, so Mutter
und ich: Morgen werde ich nicht die Tafel schreiben, sondern eine Anzeige
erstatten, gegen unbekannt.
    Ich erwarte alles andere, nur
nicht das, was jetzt passiert. Vater, der weiter an seinem Schnauzhaar dreht,
nicht flucht, sich keine Zigarette anzündet, er sitzt auf seinem Stuhl am
Personaltisch und schaut mich an, mich oder die Theke oder die Gläser hinter
mir, ich weiss es nicht, und er steht auf, langsam, stützt sich an der
Stuhllehne ab, fährt sich mit den Fingern durch das dichte Haar, und er macht
ein paar Schritte Richtung Theke, bleibt dann stehen, und einen winzigen Moment
lang sieht es so aus, als würde er taumeln, vornüber fallen, aber Vater fällt
nicht, sondern geht weiter, schaut mich kurz an, bevor er in die Küche geht,
keine Flüche, keine Verwünschungen, keine Fragen, wahrscheinlich auch keine
Erinnerung an früher, wo Vater als Feind des Systems galt, mein
konterrevolutionärer Vater, so habe ich ihn insgeheim manchmal genannt, nicht
ohne Stolz, denke ich, und jetzt? Vater, der im Tiefkühler wühlt, nach dem geeigneten
Fleisch für den Montag sucht, Vater, der sogar das Küchenradio anstellt,
während er anfängt, den Heissluftdämpfer zu putzen, ich, die fassungslos in der
Küchentür steht, schaue meinem Vater zu, wie sein Kopf im Dämpfer verschwindet.
    Setz dich, sagt
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