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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj
Autoren: Tauben flieggen auf
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schmutzstarren Gesichter aufnimmt, die
scharfen Blicke, die Lumpen, Fetzen, das über den Müllbergen zitternde Licht,
ich verlängere meinen Blick, als müsste ich das alles verstehen, diese Bilder
von Menschen, die keine Matratzen haben, Betten schon gar nicht, sich deswegen
nachts vielleicht in die Erde eingraben, in die tiefschwarze Ebene, die jetzt,
im Sommer, von Sonnenblumen nur so strotzt, sich im Winter dann so preisgibt,
dass man sich ihrer erbarmt, Erde, nichts als Erde, die im Winter von einem
zentnerschweren Himmel erdrückt wird, die, wenn der Himmel sie in Ruhe lässt,
zu einem Meer wird, windstill.
    Ich habe es nie jemandem
gesagt, aber ich liebe diese Ebene, die sich zu einem trostlosen Strich verdünnt,
nichts, das sie einem schenkt; vollkommen allein in dieser Ebene, von der du
nichts wollen kannst, auf die du dich höchstens legen kannst, mit ausgebreiteten
Armen, und das ist der Schutz, den sie dir gewährt.
    Wenn ich gesagt hätte, dass
ich Matteo liebe (einen Sizilianer, der ein paar Wochen vor den Sommerferien
in unsere Klasse hereingeplatzt ist, äao, sono Matteo de Rosa! und sofort bei allen, ausser
beim Lehrer, beliebt war), dann hätten mich womöglich die meisten verstanden,
aber wie sagt man, dass man eine Ebene liebt, die Pappeln, staubig,
gleichgültig, stolz, und die Luft dazwischen? Im Sommer, wenn die Ebene um ein
Stockwerk gewachsen ist, Sonnenblumen-, Mais- und Weizenfelder, wo du nur
hinblickst, und man erzählt, dass immer wieder Menschen in den endlosen Feldern
verschwinden, wenn du nicht aufpasst, packt dich die Ebene und frisst dich auf,
sagt man, und ich glaube nicht daran, ich glaube, dass die Ebene ein Meer ist,
mit eigenen Gesetzen.
    Diese armen Dinger, sagt meine
Mutter, als würden wir fernsehen, und statt dass wir den Sender wechseln,
fahren wir vorbei, fahren wir weiter in unserer Kühlbox, die eine Stange Geld
gekostet hat, uns so breit macht, als würde die Strasse uns gehören, und mein
Vater dreht das Radio an, damit die Musik das Niedrige in einen tänzerischen
Takt verwandelt, den Klumpfuss der Wirklichkeit augenblicklich heilt: Komm hierhin, geh nicht
dorthin, komm hierhin, mein Herrchen, und gib mir ein Küssehen ...
    Mit einem Geräusch, das nicht
der Rede wert ist, fahren wir über die Gleise, am schiefen, rostigen Schild
vorbei, das seit Ewigkeiten den Namen der Kleinstadt tragen muss, wir sind da,
sagt meine Schwester Nomi, zeigt zum Friedhof, in dem eine auffallende
Ungerechtigkeit herrscht, Gräber, um die sich niemand kümmert, einfache, von
Unkraut überwucherte, kaum mehr erkennbare Holzkreuze, Jahreszahlen,
Buchstaben, die fast nicht zu entziffern sind, wir sind da, sagt Nomi, und in
ihren Augen zeigt sich die Angst, irgendwann in den nächsten Tagen den Friedhof
besuchen zu müssen, hilflos an Gräbern zu stehen, sich für die Tränen der
Eltern zu schämen, auch weinen zu wollen, sich vorzustellen, dass da unten im
Sarg der Grossvater väterlicherseits liegt, die Grossmutter mütterlicherseits,
die wir, Nomi und ich, nie kennengelernt haben, Grossonkel und Grosstanten, die
Hände, die einem in solchen Momenten immer im Weg sind, das Wetter, das in
solchen Momenten immer unpassend ist, würde man weinen, wüsste man wenigstens,
wohin mit den Händen; Gladiolen und zarte Rosen neben Gräbern, die mit
Steinplatten bedeckt sind, die Toten, deren Namen in Stein eingraviert sind,
leserlich bleiben für die Nachwelt, die Steinplatten, die ich nicht mag, weil
sie die Erde der Ebene erdrücken, die darunterliegenden Seelen am Fortfliegen
hindern.
    Unsere Familie
mütterlicherseits und väterlicherseits, die unter Steinplatten begraben liegt,
schlimmstenfalls fehlen die Blumen, die gelben und rosaroten Rosen, die
Gladiolen, aber die Gräber, mit Steinplatten überdeckt, verwahrlosen nicht,
auch wenn sie niemand besucht, auch nicht an Allerheiligen, nicht einmal an
Allerheiligen, sagt meine Mutter, wenn irgendeine Cousine sie anruft, ihr mit
gepresster Stimme mitteilt, dass ausser ihr niemand auf dem Friedhof war, um
ein Lämpchen für die Verstorbenen anzuzünden, wenigstens verwahrlosen die Gräber
nicht, sagt meine Mutter dann, und in diesem Satz steckt die tiefe Trauer eines
Lebens, das sich nicht einmal um die Toten kümmern kann, weil sie zu weit weg
sind, um ihnen wenigstens einmal im Jahr, an Allerheiligen, Blumen
hinzustellen.
    Weil sich der Tod selten
ankündigt, sind wir also fast nie da, wenn jemand unserer Familie in der Vojvodina
stirbt, und
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