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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj
Autoren: Tauben flieggen auf
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du hast noch ein paar Tage Zeit, um Mamika auszufragen.
    Aber ich will jetzt alles
wissen, sagt Nomi, ich will jetzt alles ganz genau wissen, sagt sie nochmals
und drückt sich an Mamikas Wange, sie weint fast, ihre Stimme überschlägt sich,
und Mutter schüttelt verständnislos den Kopf, und Vater sagt, nach so einer
Fahrt habe ich keine Lust, mir dieses Geplärre anzuhören, und seine Hand saust
auf die Tischplatte, und weil da keine Fliege ist, zucken wir alle zusammen,
ausser Grossmutter, und sie sagt mit ruhiger Stimme: Herzlich willkommen in
meinem Haus! Herzlich willkommen mit allem, was ihr mit euch bringt, mein
lieber Miklós!, also, ich mache mit Nomi und Ildikö einen kleinen Rundgang, und
du, ruh dich in der Zwischenzeit aus, dann gibt's Nachtisch!
     
    Der weiche Singsang meiner
Grossmutter, das nächtliche Gequake der Frösche, die Schweine, wenn sie aus
ihren Schweinchenaugen blinzeln, das aufgeregte Gegacker eines Huhnes, bevor es
geschlachtet wird, die Nachtviolen und Aprikosenrosen, derbe Flüche, die
unerbittliche Sommersonne und dazu der Geruch nach gedünsteten Zwiebeln, mein
strenger Onkel Móric, der plötzlich aufsteht und tanzt. Die Atmosphäre meiner
Kindheit.
    So habe ich nach langem
Überlegen geantwortet, als mich Jahre später ein Freund gefragt hat, was denn Heimat
für mich bedeute, und wesentliche Dinge sind mir in dem Moment gar nicht
eingefallen. Erstens das relativ unbekannte, aber eigentlich weltbeste Getränk
namens Traubisoda, das bestimmt auch von Papst Johannes Paul II. gesegnet
worden ist und ich so fraglos mit Heimat verbinde, dass ich es zu nennen
vergessen habe. Und zweitens etwas, das sich nicht so leicht auf einen Begriff
bringen lässt, die Erinnerung nämlich an Nomi, wie sie mit ihrer Quengelei
Vater und Mutter nervte, damals, im Sommer 1980, als sie, kurz nachdem wir
angekommen waren, alles von Mamika wissen wollte, nicht nur alles, sondern
sofort alles; die Quengelei meiner Schwester, so verstand ich plötzlich, war
vergleichbar mit meinen geheimen, rasend schnell durchgeführten Inspektionen:
weil wir beide die Angst hatten, nichts mehr mit unserer Heimat zu tun zu
haben, wollten wir die Zeit einholen, in der wir nicht da gewesen waren, und in
diesem Wettrennen waren wir unsäglich erleichtert, wenn wir uns an ganz
banalen, alltäglichen Dingen orientieren konnten, dem Spaltblock, der
glücklicherweise immer noch an derselben Stelle steht, nämlich beim Schweinestall,
in der Nähe des Plumpsklos, Mamika, die sich in der Zwischenzeit keine Kühe
angeschafft hat oder Fasane, sondern immer noch mit ihren Schweinen, Hühnern,
Gänsen und Enten lebt, dem winzigen Taubenschlag, den wir unverändert auf dem
Dachboden vorfinden — und von Mamika wissen wir, dass sie die Tauben nur
unserer Mutter zuliebe hält, weil sie Grossmutters Taubensuppe über alles liebt
und sich jedes Jahr wie ein Kind, wie sie selbst sagt, auf sie freut — wir sind
froh, als wir auf unserem Rundgang mit Mamika sehen, dass sie ihren
Gemüsegarten nicht in einen Blumengarten verwandelt hat und dass der
Pflaumenbaum da steht, wo er all die Jahre zuvor auch schon gestanden hat,
neben dem Maislager, und ein Teil der Früchte fällt in den Garten und der andere
auf die Pflastersteine, wo sie innerhalb kürzester Zeit den Ameisen, Käfern,
Wespen, den immer blöd rumpickenden Hühnern zum Opfer fallen. Als Mamika uns
ihre Welt zeigt, beim Holzzaun, der an den Hühnerstall grenzt, stehen bleibt
und sagt, ja, der Innenhof von Herrn Szalma ist immer noch genauso vergammelt,
seht es euch selbst an!, als wir durch den fingerbreiten Spalt des Zaunes
spähen, die riesigen Kürbisköpfe sehen, die an etlichen Stellen schon
aufgeplatzt sind, das Unkraut, das die schönen Rosen verdrängt, als wir Mamika
sagen hören, sie könne diesen liebenswürdigen Herrn Szalma nicht verstehen,
dass er jedes Jahr sein Haus mit neuer Farbe weisse, aber seinen Garten so
verkommen lasse, schaut nur, wie sich das Efeu über die Beerenhecken frisst!,
da sind Nomi und ich beruhigt, weil sich unsere Heimat nie verändern darf und
wenn, dann nur ganz geringfügig (und mit achtzehn, wenn wir volljährig sind,
würden wir zurückkommen, unter Mamikas warme, dicke Bettdecke kriechen, und wir
würden davon träumen, dass wir ein paar Jahre weg gewesen sind, in der
Schweiz).
    Ja, endlich sind wir da, nach
unserem Rundgang merken wir, dass wir wirklich angekommen sind, dass wir jetzt
da sind, wo unsere Grossmutter ihr Leben verbringt,
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