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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj
Autoren: Tauben flieggen auf
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Inspektionen
fortzusetzen: Alles noch da? Die zwei Drahtgitter Silos, in denen Mais gelagert
wird und sich die frechen Mäuse tummeln, der blaue Ziehbrunnen, der für mich
immer ein Wesen gewesen ist (ein Zwerg? ein undefinierbares Tier?), die Rosen
und Nachtviolen, für die meine Mutter schwärmt, deren Duft einem nachts den
Kopf verdrehen kann, die Pflastersteine, auf denen im Sommer die Pisse
verdampft, auf die das Blut der Hühner spritzt, denen Mamika gekonnt die Hälse
durchschneidet, von denen die Hühner soeben noch zermahlene Maiskörner gepickt
haben. Alles noch da?, frage ich mich insgeheim, und warum mich in diesen
ersten Momenten des Ankommens diese spezifische Unruhe ergreift und dass ich
mit diesem unangenehmen Gefühl nicht allein bin, sondern Nomi genauso davon
befallen ist, aber anders damit umgeht, das habe ich erst viel später
verstanden.
    Und nachdem ich den Innenhof
inspiziert habe, den Hühnerstall, das Plumpsklo, den Miststock, den Garten und
natürlich den Dachboden — der die schönsten aller Geheimnisse preisgibt —, muss
ich rasch wieder die morsche Leiter hinabsteigen, aufpassen, dass ich keines
dieser leuchtenden Mittagsblümchen zertrete, die in den Zwischenräumen der
Pflastersteine wachsen, ich muss, so schnell es eben geht, zum Tor zurück, die
Klinke runterdrücken, meinen Kopf rausstrecken, um zu sehen, ob sie noch da
ist, die Irre mit den zerzausten Haaren, mit ihren Augen, die alles glauben und
alles vergessen, die fragen, bevor der Mund es tut, hast du etwas für mich?,
etwas kleines Süsses?, für mein Herz, ein Zückerchen? Ich muss sehen, ob Juli noch
da ist, die ein Kindskopf geblieben ist, so sagt man, obwohl sie schon
längstens Brüste hat und zottige Haare unter den Achseln, Juli, die ein paar
Steinwürfe weiter weg gegen die Hausmauer lehnt oder auf einem Klappstuhl
sitzt, dem Tag nichts weiter antut, als ihn zu betrachten, Juli, bist du da?
Die Irre, vor der wir Kinder uns fürchten, die wir endlos verspotten, Juli,
die wir lieben, weil sie uns alles glaubt und Dinge erzählt, die nach einer
fremden Welt riechen (he, Nomi und Ildikö, sagt Juli, ihr habt eine Schwester,
ja ja ja, ich weiss das, sie ist wunderschön, ja ja ja, und Juli kichert, ich
weiss das, seht mal her, und Juli zeigt auf die grossen, orangen Blumen ihres
Kleides, das sind meine Augen, ja ja ...).
    Traubi! sagen Nomi und ich aus
einem Mund, als wir uns die Hände gewaschen haben, uns an Mamikas gedeckten
Tisch setzen und die Fläschchen auf einem Plastiktablett bereitstehen,
Traubisoda! So heisst das Zaubergetränk unserer Heimat, ein schlankes
Fläschchen ohne Etikette, auf dem die weissen Buchstaben auf grünem Glas
leuchten, Mamika, die jede Menge Traubi für uns gekauft hat, nur für euch!, und
natürlich sind Nomi und ich verwöhnte Westgören, die sich darüber lustig
machen, dass die im Osten versuchen, Coca-Cola zu imitieren und dabei nichts
weiter als eine braune, ungeniessbare Brühe namens Apa Cola zustande bringen
(Apa Cola, was für ein bescheuerter Name!), aber Traubi lieben wir, wir lieben
Traubi so sehr, dass wir uns überlegen, ob wir ein paar Fläschchen mit nach
Hause, in die Schweiz, nehmen sollen, um unseren Freundinnen zu zeigen, dass es
bei uns, in unserer Heimat, etwas gibt, das unglaublich gut schmeckt — doch bis
jetzt haben wir es nicht getan.
    Mamika, die Hühnergulasch mit
Nockerln auftischt, Paniertes vom Schwein mit frittierten Kartoffeln und
Kürbisgemüse, an der Sonne gesäuerte Gurken und Tomatensalat mit roten
Zwiebeln, Mamika, die uns erlaubt hat, soviel Traubi wie wir wollen zu trinken,
und für ein Mal dürfen wir während dem Essen aufstehen, um uns an Mamikas
weicher Haut satt zu küssen, wir drücken uns von links und von rechts in die
Wärme ihres Kleides, und nur Mamika nervt uns nicht, wenn sie sagt, dass wir
beide bestimmt zwei Fingerbreit gewachsen seien, meine grossen Mädchen, sagt
sie, und bald seid ihr junge Frauen! Nomi und ich, wir legen nacheinander unse re Hände auf Mamikas
Haarknoten, weil das so weich und angenehm ist, das geflochtene Haar auf der
Handinnenfläche, und ich, die sich in diesem Sommer schon so fühlt, als wären
die Beine zu lang, die Hände zu gross, immer irgendetwas am eigenen Körper, das
nicht mehr summt, bin also sicher mehr als zwei Fingerbreit gewachsen, und
trotzdem bin ich noch weit entfernt von der Welt der Erwachsenen, das merke ich
vor allem, wenn Mutter und Vater anfangen, von unserem Leben in der Schweiz
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