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Miss Emergency

Miss Emergency

Titel: Miss Emergency
Autoren: Rothe-Liermann Antonia
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I ch glaub’s nicht, Lena!«
Jenny, meine Freundin mit den ungezählten Männergeschichten, schüttelt grinsend den Kopf. »Tut mir leid, ich glaub’s immer noch nicht. Es ist einfach ZU verrückt!«
    Ich gebe zu: Heute Morgen, da wir uns in nüchterner Montagsstimmung der Klinik nähern und aus der vollgestopften S-Bahn in das trübe Berliner Herbstwetter stolpern, klingt es unglaubwürdiger denn je. Auch die sanfte Isa hat Zweifel, obwohl sie es vorsichtiger zum Ausdruck bringt. »Aber schau dir Lenas Lächeln an! Sie selbst glaubt es auf jeden Fall …«
    Das ganze Wochenende lang haben meine Freundinnen mich ausgequetscht, sie konnten die Geschichte nicht oft genug hören. (Natürlich habe ich auch nichts lieber getan, als sie wieder und wieder zu erzählen.) Am Sonntagabend bei Kakao und Keksen in unserer gemütlichen Küche klang es schon fast glaubwürdig: Wir haben uns geküsst – Dr. Thalheim, der wortkarge, kantige Oberarzt der Inneren, und Lena Weissenbach, die kleine PJlerin. Ein richtiger Kuss, mit weichen Knien und Händezittern. Jedenfalls was mich betrifft …
    Aber auch an diesem nüchternen Morgen ist es immer noch wahr! Selbst hier im klammen Frühnebel zwischen den mürrischen Pendlern kann ich noch die zarte rosa Wolke in der Magengegend spüren. Wir haben uns geküsst!
    Eigentlich sollten gerade ganz andere Dinge unsere Nachwuchsärztinnengehirne ausfüllen. Denn heute beginnt unserzweites PJ-Tertial im St.-Anna-Krankenhaus. Auf uns wartet die Chirurgie. Noch vor einer Woche hat uns nichts mehr beschäftigt als die Frage, wie wir diese Herausforderung meistern werden. Klar, in unserem ersten Tertial auf der Inneren Station haben wir reichlich Erfahrungen gesammelt – mit Ärzten, Schwestern und Patienten, mit den eigenen Ängsten und dem inneren Schweinehund. Wir haben uns durchgebissen und können stolz sein. Aber im Chirurgietertial werden doch weit schwierigere Aufgaben auf uns warten – denn jetzt wird operiert! Theoretisch beherrschen wir seit dem sechsten Semester selbst die kompliziertesten thoraxchirurgischen OPs im Schlaf. Aber praktisch hat noch keine von uns auch nur einen einzigen winzigen Öffnungsschnitt an einem lebendigen Patienten gesetzt. Es gäbe also genug Aufregendes und Beunruhigendes zu bedenken. Doch wir sprechen bis in den Aufzug nur über DEN KUSS. Und ehrlich, in meinem Kopf ist für nichts anderes Platz. Ich kann den neuen Kollegen, Patienten und Aufgaben im Moment einfach nicht den angemessenen Hirnraum widmen. Denn in meinem Kopfkarussell geht es den ganzen Morgen nur um eines: Heute werde ich IHN wiedersehen. Dr. Thalheim, den klugen, geheimnisvollen, unglaublich gut aussehenden Oberarzt, der nur mit den Augen lächelt. Meinen Dr. Thalheim. (Komisch – kann man in jemanden verliebt sein, den selbst die eigene Gedankenstimme immer noch mit Titel und Nachnamen anredet?)
    Im Aufzug sind meine Freundinnen schon wieder fast überzeugt, dass ich spinne. Mein eigenes Hirn ist inzwischen vollkommen abgemeldet. Denn hier sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Hätte mir damals jemand prophezeit, dass ausgerechnet ich am Ende des Tertials den unnahbar lässigen Oberarzt küssen würde …
    »Vielleicht ist es ein Test?« Typisch Isa – was ist in ihrem besorgten Köpfchen kein Test?
    »Von Lena oder vom Oberarzt?«, fragt Jenny spöttisch. »Und was wird getestet? Unsere Fantasie oder unsere Loyalität?«
    Die Fahrt dauert acht Sekunden länger als bisher – acht Sekundenunterscheiden die Anfänger von den Fortgeschrittenen. Mit einem Pling öffnen sich die Aufzugtüren und geben den Blick auf unseren zukünftigen Arbeitsbereich frei. Vom Empfangstresen der Chirurgie strahlt uns eine ältere Schwester an. »Husch, husch, Mäuschen, die Einführung fängt gleich an.« Die gefällt mir. Sie wirkt gemütlich, fröhlich, mütterlich. Kein Vergleich mit der verkniffenen Schwester Klara auf der Inneren. Grinsend deutet die Stationsschwester zum Aufenthaltsraum der Ärzte. Sieben Uhr neunundfünfzig. Noch eine Minute bis zum Chirurgietertial.
    Im Aufenthaltsraum wartet eine gespannte PJler-Reihe auf den Glockenschlag. Wir lächeln einander an, wir sind immerhin keine Anfänger mehr und wissen, was auf uns zukommt. Zumindest sind wir inzwischen erfahren genug, um vor den anderen diesen Eindruck zu erwecken. Punkt acht betritt ein groß gewachsener Blonder im schnittigen Kittel den Raum, mustert uns zufrieden und sagt: »Ach, Gott sei Dank! Ich hatte schon Angst, ich
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