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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj
Autoren: Tauben flieggen auf
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ein
paar Schritte, damit ich das Gefühl habe, mitten im Dorf zu stehen, ich schaue
nochmals zu den Tannen, zum Kirchturm, greife in die Tasche, meine Hand auf der
kalten Aluminiumflasche, ich zeichne mit dem Rahmbläser Grossbuchstaben auf
den Dorfplatz, schöne, weisse, schmackhafte, fehlerfreie Buchstaben aus
Vollrahm, mein harmloser Kinderscherz für uns, die Familie Kocsis, bevor ich
endgültig verschwinde aus diesem Dorf.
     
    November
     
    Ich wohne mitten in der Stadt,
an einer Autobahn, meine winzige Wohnung liegt an der so genannten
West-Tangente, tausend Autos und hundert Lastwagen fahren stündlich an mir
vorbei, Richtung Chur, ich, auf meinem Bett sitzend, denke an Wörter wie "Verkehrsstrom"
oder "Verkehrsfluss", mein Boiler in der Küche brummelt, der
Stromzähler im Korridor ist einen Tick zu laut, warum eigentlich "West-Tangente",
wenn die Autos vom Westen kommen und Richtung Osten fahren, beim Autofahren
denkt man doch immer in Fahrtrichtung, oder nicht? "Auspuff der Nation"
wird die Strasse genannt, die nicht nur an der West-Tangente liegt, sondern
auch "Weststrasse" heisst.
    Von einem doppelstöckigen Bus
aus, der direkt vor meinem Fenster hält, schauen mich ein paar Kindergesichter
mit platt gedrückten Nasen an; ich winke, sie lachen und winken zurück, ein
Kind, das eine Zeichnung gegen das Busfenster hält, eine Sonne, ein Regenbogen,
Wolken und inmitten von allem: ein Hase, an einer Karotte knabbernd, und ich
stehe auf, gehe zum Fenster, strecke meinen Kopf in Fahrtrichtung, um zu
sehen, ob ich die Nationalität der Kinder richtig erraten habe, nein, und ich
bleibe noch ein bisschen stehen, bin eine Attraktion am Fenster, bemitleidende,
belustigte, neugierige Augen, und ab und zu sind die Blicke irritiert,
vermutlich, weil ich sie störe, weil ich da wohne, wo man bloss eines will:
ungehindert weiterfahren, vorbeifahren. Und ich amüsiere mich über filzige
Dufttannen oder über irgendwelche Dackel, die Heckablagen zieren, mit spiraligen
Hälsen bei jeder Bodenerhebung wackeln. Ich schaue unverfroren in verkniffene
Autogesichter, die sich darüber ärgern, dass der Verkehr nicht fliesst,
sondern sich staut, jetzt, um acht Uhr morgens; ich, die Kurt bewundert, Hans,
Pavel, Rüdiger und wie sie alle heissen (die einzige Ausnahme: Cindy), die
Lastwagenfahrer, die einsam und schwer auf ihren Sitzen thronen, an deren
Rückspiegeln kleine Glücksbringer baumeln.
    Sie sollten sich Vorhänge
zutun, meint die Hausmeisterin, Frau Gründler, das ist doch eine Zumutung,
wenn da einem alle ins Schlafzimmer gaffen, nein?, also mich würde das stören;
Frau Gründler, die mich fast täglich besucht, kurz anklopft und dann schon in
meinem Korridor steht mit ihrem Hündchen, Surinam York Hamshire, ich kann
Ihnen auch welche nähen, wenn Sie wollen, ich meine, wenn Sie kei Stufig haben, kein Geld. Es stört
mich wirklich nicht, antworte ich, wenn ich schlafe, schlafe ich, und wenn ich
wach bin, gaffe ich selber oder setze mich in die Küche. Na gut, mal sehen, wie
lange Sie das so aushalten, spätestens, wenn Sie einen Freund haben ... und
Frau Gründler schüttelt ihre Locken, schmeisst ihren Hund auf den Boden, Suri,
der sie gewohnt ist, die plötzliche Höhendifferenz, die er abfedern muss, steht
aufrecht und mit wedelndem Schwanz da, ich lache, wollen Sie einen Kaffee? Ach,
Frau Kotschi, wenn ich Sie nicht aufhalte, und Frau Gründler geht mit forschen
Schritten in die Küche, jetzt sieht's ja schon richtig gemütlich aus bei Ihnen,
und sie setzt sich, schnauft, Milch und Zucker, frage ich. Heute schwarz,
antwortet Frau Gründler, und ich, die uns Kaffee einschenkt, nicht in die
Alltagstassen, sondern in die beiden schönen Espresso-Tässchen, die einzigen,
die ich besitze. Sie sind ein Schatz, und Frau Gründler nippt, nippt nochmals,
fängt dann an zu reden, also was die Kerle gestern Nacht wieder angerichtet
haben, Frau Kotschi, das geht auf keine Kuhhaut!, Frau Gründler, die in ihre
Manteltasche greift, hier, die hab' ich mir gebastelt, nicht, dass ich damit
sagen will, ich war' genial, ist ja ganz einfach, und die Hausmeisterin hält
mir eine Schleuder hin, aber mit dem Ding hab' ich gestern Nacht einen dieser
versoffenen Kerle erwischt, am Bein, Tor!, habe ich gerufen, Eins-A-Schuss!
Sagen Sie mal, Frau Kotschi, haben Sie mich denn nicht gehört?
    Natürlich habe ich die
Hausmeisterin gehört, ihr Organ, wie sie selbst sagt, ist unüberhörbar, Frau
Gründler, die sich ärgert über die Kerle, die
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