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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj
Autoren: Tauben flieggen auf
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dann neben
Suri auf einen mit dunkelgrünem Samt bezogenen Ohrensessel setzt. Ich finde es
erstaunlich, dass von oben meistens alles ganz anders aussieht, sage ich, und
die Hausmeisterin antwortet lachend, Sie können gern das Fenster öffnen, wenn
Sie nicht glauben, dass wir immer noch im gleichen Haus sind, und sie gibt mir
einen Teller mit belegten, salzigen Häppchen, und Suri springt in die Luft,
schnappt nach einem Stückchen Schinken. Frau Kotschi, sagt die Hausmeisterin,
nachdem sie ihrem Hund applaudiert, ihn für seine Sprungkraft gelobt hat, darf
ich Sie etwas fragen, ich bin ja eine neugierige Natur, ich darf?, gut, Sie
sind immer da, wenn ich Sie überfalle ... aber Sie sind doch ein junger Mensch
... gehen Sie denn nie aus? Was machen Sie an so einem Tag mit seinen
vierundzwanzig Stunden? Ich richte meine Wohnung ein, also, ich habe gerade
frei und bin deshalb oft zu Hause. Und Sie fahren nicht weg, wenn Sie Ferien
haben?, und Frau Gründler schluckt ihren letzten Bissen runter, zieht dann
ihren Lippenstift aus ihrem Handtäschchen, spitzt den Mund, malt ihn grosszügig
an, sagt dann, elende Schminkerei, ohne dieses Kirschrot komme ich mir schon
ganz fad vor, und Frau Gründler fährt sich mit dem Zeigefinger über die Zähne,
weil die auch immer was abbekommen, aber wegen den Ker len tu ich's nicht, das sag'
ich Ihnen direkt ins Gesicht, die meisten haben sowieso keinen Geschmack ...
die Jungen von heute reisen doch durch die halbe Welt mit diesem ... wie heisst
das nochmals, ja genau, Interrail. Ich habe mir vorgenommen, meine Wohnung
langsam einzurichten, antworte ich, damit sich meine Sachen allmählich an die
neue Umgebung gewöhnen, und ich stehe auf, strecke der Hausmeisterin meine Hand
hin. Wie Sie das jetzt gesagt haben, Sie müssen sich doch sicher auch — nicht
nur Ihre Sachen, und Frau Gründler schiebt den Unterkiefer etwas nach vorn,
gibt mir ihre Hand. Ja natürlich ... vielen Dank für die Erfrischung, und
kommen Sie bald wieder, ich bin meistens für Sie da, sage ich lachend und bin
weg.
     
    Vor knapp drei Wochen bin ich
ausgezogen, was das auch immer heisst, ich stand stundenlang mit Mutter, Vater
und Nomi im Wohnzimmer, im Korridor, dann in der Küche und in meinem Zimmer,
Vater hat den Kopf geschüttelt, hat die Kartonschachteln mit ungläubigen Augen
angefasst, mich angeschaut, wir haben doch genügend Platz hier bei uns, hat er
leise gesagt, und er kam mir so klein vor, Vater, mit seinen geröteten Augen,
aber ich habe auch geweint, wir alle; und Vater wollte ständig ein Foto von mir
machen, ich, dann ich und Nomi, ich mit meinen Kinderzeichnungen, ich mit
meinen Möbeln, die ich, ausser das Bett, nicht mitnehmen wollte. Was sollen
denn die Möbel ohne dich, hat Mutter gesagt, und in dem Moment wurde Vater fast
wütend, das kannst du uns nicht antun, das ist doch eine schlechte Erinnerung,
Möbel, die niemand mehr braucht, und Nomi hat geantwortet, wir könnten sie doch
in den Keller runtertragen, jetzt gleich, da sei genügend Platz, und wenn wir
irgendwann wieder Besuch bekämen, dann wären wir doch froh um die Möbel. Und
komischerweise haben Mutter und Vater sofort eingewilligt, wir haben zusammen
den Schrank, das Büchergestell, den Schreibtisch, die Kommode in den Keller
transportiert, jedes Möbelstück zu viert und nach langem Hin und Her, wie es
wohl am Besten, am Einfachsten ginge. Als dann Vater im Luftschutzbunker die
mit hellen Leintüchern abgedeckten Möbel sah, rief er, nein, nein, ich kann
nicht hinschauen, wir haben uns Geister ins Haus geholt! Jetzt hör aber auf,
hat Mutter geantwortet, das sind Ildis Möbel, die auf Besuch warten!
    Hier in der Schweiz ist das
normal, das Ausziehen, alle ziehen hier früh aus, mit sechzehn oder siebzehn,
selten ist jemand älter als zwanzig, das gehört zum Erwachsenwerden, haben Nomi
und ich immer wieder unseren Eltern zu erklären versucht, auf Deutsch und
Ungarisch, und wir wussten beide: es würde ausbleiben, das Verständnis von
Mutter und Vater, dass man unverheiratet auszieht, es vorzieht, in einem "Loch"
zu wohnen, wo man doch die Möglichkeit hat, an einem Ort zu leben, wo alles da
ist. Aber erst an dem Tag, als ich meine Sachen in die Kartonschachteln
packte, ahnte ich, dass es noch um viel mehr ging: Um eine tiefe Scham, die
Mutter und Vater wahrscheinlich für meinen Auszug empfanden, was würden unsere
Verwandten dazu sagen?, in ihren Augen konnte ich lesen, dass mein persönlicher
Aufbruch für sie die Abkehr
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