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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
Autoren: Francesc Miralles
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650000 STUNDEN
    Noch einen Augenblick, und wieder würde ein Jahr zu Ende gehen und ein neues beginnen. Letztlich haben wir doch willkürlich festgelegt, wann Jahre, Monate und Stunden anfangen. Erfindungen der Menschen, um Kalender zu verkaufen. Wir haben die Welt nach unseren Vorstellungen eingerichtet, weil es uns beruhigt. Vielleicht hat das Universum hinter dem offensichtlichen Chaos ja tatsächlich eine feste Ordnung. Ganz bestimmt aber nicht unsere.
    Während ich einen Piccolo und einen Teller mit zwölf Weintrauben auf meinen großen Esstisch stellte, dachte ich über die Zeit nach. Ich hatte einmal gelesen, dass die Batterien eines Menschenlebens nach rund 650000 Stunden leer sind.
    Angesichts der Krankengeschichte des männlichen Teils meiner Familie würde mein persönliches Kontingent wohl kaum über 600 000 Stunden liegen. Mit meinen siebenunddreißig Jahren befand ich mich vermutlich ziemlich genau auf halber Strecke.
    Bis zu diesem 31. Dezember, kurz vor Mitternacht, war mein Leben nicht gerade besonders abenteuerlich gewesen.
    Außer einer Schwester, die ich fast nie sah, hatte ich keine Verwandten, und mein Leben spielte sich zwischen dem Institut für Germanistik, wo ich als Dozent arbeitete, und meiner Wohnung ab.
    Mit Ausnahme der Studenten in meinen Literaturseminaren hatte ich kaum soziale Kontakte. Meine Freizeit verbrachte ich, abgesehen von den Unterrichtsvorbereitungen und dem Korrigieren von Klausuren, mit den typischen Beschäftigungen eines Junggesellen, der zu viel Zeit hat: Bücher wieder und wieder lesen, klassische Musik, die Nachrichten ... Das Aufregendste in dieser Routine waren meine gelegentlichen Fahrten zum Supermarkt.
    An Feiertagen gönnte ich mir hin und wieder einen Kinobesuch. Meistens einen ausländischen Film in Originalfassung. Immer die vorletzte Vorstellung. Ich verließ das Kino stets so einsam, wie ich es betreten hatte, doch die Erinnerung an den Film lenkte mich für den Rest des Abends hinreichend ab. Zu Hause studierte ich dann das Infoblatt zum Film: die technischen Daten, die Lobreden der Kritiker (die schlechten Kritiken werden ja nie abgedruckt) und das eine oder andere Interview mit Regisseuren oder Schauspielern. Die Lektüre änderte jedoch nie etwas an meiner Meinung über den jeweiligen Film. Schließlich schaltete ich das Licht aus, um zu schlafen.
    Wie jedes Mal überkam mich in diesem Augenblick ein seltsames Gefühl. Ich dachte daran, dass ich keinerlei Gewissheit hatte, am nächsten Tag wieder aufzuwachen. Das Gefühl verschlimmerte sich, wenn ich damit begann zu berechnen, wie viele Tage oder gar Wochen vergehen würden, bis jemand bemerkte, dass ich tot war.
    Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los, seit ich in der Zeitung gelesen hatte, dass ein Japaner drei Jahre tot in seiner Wohnung gelegen hatte, bis man ihn fand. Offenbar hatte ihn niemand vermisst.
    Aber zurück zu der besagten Silvesternacht. Während ich an meine verlorenen Stunden dachte, betrachtete ich das Tellerchen mit den zwölf Trauben und die kleine Sektflasche. Ich habe mir nie viel aus Alkohol gemacht.
    Als ich den Piccolo öffnete, waren es noch sechs Mi nuten bis zum Glockenschlag – ich wollte nicht riskieren, dass mich das neue Jahr unvorbereitet traf. Dann schaltete ich den Fernseher ein und zappte mich durch die Programme bis zu einer Sendung, die die Feier zum Jahreswechsel an der Puerta del Sol in Madrid übertrug. Hinter den beiden Moderatoren – strahlend und schön – zappelte eine enthusiastische Menge und ließ die Sektkorken knallen. Es wurden die traditionellen Gesänge angestimmt und einige Leute rissen die Arme hoch und sprangen in die Luft, um ins Bild zu kommen.
    Wie seltsam einem die Vergnügungen der anderen vor kommen, wenn man allein ist.
    Um Mitternacht steckte ich mir vorschriftsmäßig mit jedem Glockenschlag eine Weintraube in den Mund. Während ich die Reste mit einem Schluck Sekt hinunterspülte, kam ich mir ziemlich albern vor, weil ich einer dummen Tradition auf den Leim gegangen war.
    Derart ertappt, beschloss ich, dem Jahreswechsel nicht noch mehr Zeit zu widmen, wischte mir mit einer Serviette den Mund ab und schaltete den Fernseher aus.
    Während ich meinen Pyjama anzog, drangen von der Straße her das Krachen der Raketen und johlendes Gelächter in meine Wohnung herauf. Wie kindisch, dachteich bei mir, als ich mich ins Bett legte wie an jedem anderen Abend auch.
    In dieser Nacht konnte ich nicht einschlafen. Allerdings nicht wegen des
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