Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
zur Villa hinauf, der keinen Namen hatte, »Carl-Jacob-Candoris-Weg« benannt werde. Er verwahre den Schlüssel zur Villa; wenn wir es wünschten, werde er ihn uns gern geben, falls wir den Geist des großen Verstorbenen in seinem Haus spüren wollten … Frau Mungenast war durch das schmale Tor zum Friedhof vorausgegangen. Ich erkannte die Wissenschaftsministerin, sie nickte mir zu. Ich erkannte Frau Brugger vom ORF, sie nickte mir zu. Der marmorne Obelisk mit Margaridas Namen war beiseite gestellt worden, er lehnte ein paar Meter abseits des Aushubs an der Friedhofsmauer. Die Umstehenden machten Platz für uns. David stand zwischen Dagmar und mir. Meine Mutter hatte den ganzen Weg herauf meinen Arm nicht losgelassen. Wir waren die Angehörigen, sozusagen.
    Neben uns traten der Mann und die Frau, die mich gestern im Korridor des Hotels gegrüßt hatten. Die Frau reichte mir die Hand.
    »Sie wissen nicht, wer ich bin. Hab’ ich recht? Ich bin Valerie. Carls Schwester. Sie sind Sebastian. Ich habe Sie im Kinderwagen durch den Prater geschoben. Dies ist mein Mann, Poul Findsen. Wir sind gestern aus Kopenhagen gekommen. Frau Mungenast sagte uns, Sie steigen im Hotel Central ab, also wollten wir auch dort absteigen. Wie geht es Ihrer Mutter? Ist sie auch hier?«
    »Mama«, sagte ich, »das ist Valerie.«
    Valerie riß die Arme hoch, als sie meine Mutter sah, preßte die Hände vor den Mund und rief: »Mein Gott!«
    Die Glocken hinter uns begannen zu läuten. Der Sarg wurde aus der Kirche getragen. Sechs Männer trugen ihn. Sie stellten ihn vor der Grube ab, schoben Seile unter ihm hindurch und ließen ihn in die Erde sinken. Ein Mann mit großer Brille und rotem Gesicht, der sich als Rektor der Universität vorstellte (was irgendwo mit einem kleinen Lacher quittiert wurde), hielt eine Ansprache, der ich nicht folgen konnte. Ich neigte mich nach hinten zu Frau Mungenast, legte eine Hand an ihr Ohr und flüsterte: »Bitte, seien Sie nicht feindselig zu mir, nicht heute.« Sie faßte nach meiner Hand und drückte sie.
    Frau Mungenast hatte uns gefunden, Carl und mich, aneinander gelehnt, die Beine von uns gestreckt, vor Sebastians Zimmer sitzend. Sie war früher als gewöhnlich gekommen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen gehabt. Sie habe, erzählte sie mir, als Carl in seinem Bett war und wir miteinander in der Küche frühstückten, gespürt, daß etwas geschehen war; sie habe, sagte sie wörtlich, »gefühlt, daß der Tod über Herrn Professor Candoris steht«. »Warum steht?« hatte ich sie gefragt. Und sie: »Ich habe mir vorgestellt, Herr Professor Candoris liegt am Boden, und der Tod stellt sich über ihn.« – »Wie?« – »Einen Knochenfuß rechts von ihm, den anderen links.« – »Und hatte er die Sense bei sich?« – »Sie machen sich lustig über mich.« – »Sie haben ihn doch gesehen.« – »Ich hatte so ein Gefühl, das ist etwas anderes.«
    Zweimal hatte ich uns aus meinem Badezimmer ein Glas Wasser geholt. Ein Kissen zum Unterlegen hatte Carl mehrfach abgelehnt. Nachdem er in seiner Geschichte geendet hatte, war er zur Seite gesunken. Ich hatte versucht, ihn aufzurichten, aber es war so wenig Stabilität in seinem Körper. Schulter und Kopf lasteten im Übergewicht auf den Rippen, deswegen tat er sich mit dem Atmen schwer. Ich sagte, ich würde versuchen, ihn aufzurichten und in mein Zimmer zu schleifen, damit er sich auf das Bett legen könne, bis Frau Mungenast ihren Dienst anträte. Er gab eine Antwort, aber ich verstand sie nicht. Es war zuwenig Luft für die Stimmbänder in ihm. Ob ich ihm die Medikamente holen solle, fragte ich. Wieder murmelte er etwas, ich verstand ihn wieder nicht. Ich schob ihn etwas von der Wand weg, stellte mich hinter ihn, ging breitbeinig in die Hocke, so daß ich seinen knochigen Rücken zwischen meine Schenkel bekam. Das verhinderte, daß er zur Seite kippte. Ich fuhr mit meinen Unterarmen unter seine Achseln. Aber ich hatte zuwenig Kraft, ihn vom Boden aufzurichten. Er schrie. Vielleicht hatte die Wirkung der Tabletten mit einem Schlag nachgelassen. Ich solle ihn nicht mehr anrühren, keuchte er. Ich schob ihn zur Wand zurück. Der Fußboden um ihn herum war naß. Aber ich konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er oder ob ich das Wasser nicht hatte halten können. Ich holte die Zudecke und den Kopfpolster aus meinem Zimmer, rollte sie zu einer Barriere zusammen und klemmte sie an seine eine Seite, an die andere setzte ich mich. Das hielt ihn einigermaßen aufrecht.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher