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Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
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Schatten des Schutzengels möge nicht über seinen Tod hinaus auf mir liegen. So las sich meine innere Propagandaschrift. Und der wahre Grund für meinen Verzicht? Der Wunsch, ein Held zu sein? Ein Vorbild? Ein autonomer Anarchist? Einer, als wäre er aus einem Song von Woody Guthrie gestiegen? Ich hatte mir vorgenommen, gleich nach der Beerdigung vor meiner Mutter, vor David, vor Dagmar, auch vor Frau Mungenast, wenn sie zufällig anwesend wäre, meinen Standpunkt darzulegen, gar nicht erst abzuwarten, bis wir von einem Notar kontaktiert würden. Frau Mungenast hatte mir meinen Auftritt vermasselt. Andererseits: Wie kam ich eigentlich dazu, mich als heiliger Franz von Assisi aufzuspielen? In was für eine Lage würde ich damit David und Dagmar und meine Mutter bringen? Was sollten sie tun? Ebenfalls verzichten? Blieb ihnen etwas anderes übrig? Allein das Haus am Rudolfsplatz hatte einen Wert von mindestens hundert Millionen Schilling – ich hatte keine Ahnung von solchen Dingen, ich schätzte einfach. Die Villa drüben am Hang plus das Grundstück rundherum peilte ich auf dreißig Millionen. Margarida hatte von ihrem Vater ein Vermögen geerbt, das mußte dazugerechnet werden. Carl wird es gewinnbringend angelegt haben. Einmal hatten wir doch über Geld gesprochen. Ich hatte ihm erzählt, daß ich Ende der neunziger Jahre – zum Teil auf Kredit! – Aktien eines Technologiefonds gekauft hätte, dessen Kurs im Jahr zuvor um fast dreihundert Prozent gestiegen war; daß sich mein Einsatz im ersten Jahr tatsächlich verdoppelt habe, ich aber, trotz Anraten eines freundlichen Bankangestellten, die Aktien nicht verkaufen wollte und in den folgenden zwei Jahren achtundneunzig Prozent meines investierten Geldes vernichtet worden sei. Carl hatte gesagt, er habe mit Geld nie einen anderen Umgang als einen konservativen gepflegt. Nein, er wird sein Vermögen nicht verspekuliert haben. – War es schäbig, auf dem Weg zur Beerdigung über Geld nachzudenken? Es war schäbig. Wahrscheinlich. Sicher. Aber. Was, wenn es sich alles in allem um zweihundertfünfzig Millionen Schilling handelte? Oder mehr? Bestimmt sogar mehr. Wir werden uns wundern! Sagen wir zweihundertvierzig Millionen, weil es sich leichter durch vier dividieren läßt und weniger schwindlig macht. Weniger schwindlig? Fast sechzig Millionen Schilling für meine Mutter, ebenso viel für Dagmar, ebenso viel für David, ebenso viel für mich. Gibt es einen Menschen auf dieser Welt, gab es jemals einen, würde es jemals einen geben – Diogenes, den heiligen Franziskus, Mutter Teresa und Robespierre abgezogen –, der nicht darüber nachdächte? Ich hatte damit gerechnet, daß Carl während meines Besuchs selbst die Rede darauf bringen würde; ich hatte damit gerechnet, und ich hatte es zugleich befürchtet. Also gut, du willst nichts von mir haben. Und wenn es sich um fast siebzig Millionen Schilling handelt? Also was? Man nimmt, weint, ballt die Faust und schwört, man werde die Wohltat dem Wohltäter nie verzeihen? Ich hatte mir gewünscht, er würde mich fragen, welchen Gegenstand ich mir als Erinnerungsstück an ihn aussuchen wolle (nach dem Tod von Margarida hatte er meiner Mutter und mir genau diese Frage gestellt – ich hatte mir ihren Füllhalter ausgesucht, weil es so logisch war: derjenige, der ein Schriftsteller werden möchte, kriegt den Füllhalter); und ich war wieder mit mir in die Bredouille geraten, denn es gab nur einen Gegenstand, den ich wirklich gern gehabt hätte, nämlich die Gibson meines Vaters – ich wußte nicht, wie sie überhaupt zu Carl gekommen war, wahrscheinlich hatte sie meine Mutter ihm geschenkt; Bredouille deshalb, weil ich ihn damit vielleicht noch mehr gekränkt hätte als mit einer Zurückweisung seines Geldes … – Um es gleich vorwegzunehmen: Carl hatte kein Testament hinterlassen; es war ihm vollkommen egal gewesen, was nach seinem Tod mit seinem Besitz angestellt würde. Es nahm also alles seinen vom Gesetz vorgesehenen Verlauf. Er hat darauf gepfiffen! Und ich bin ihm dankbar dafür … obwohl es mich doch verblüfft hat …
    Die Straße durch das Dorf hinauf zur Kirche war voll von Menschen. Zur Kirche hin staute sich die Menge. Von manchen Häusern hing eine schwarze Fahne. Vor dem ADEG stand die junge Frau, die beim Brot bediente, und winkte mir mit einer kleinen, schnellen, verschämten Hand zu. Der Bürgermeister kam uns entgegen und schüttelte kräftig unsere Hände. Es sei bereits beschlossen, daß der Weg
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