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Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
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Mir war, als werde er neben mir weniger. Er solle langsam atmen, sagte ich, er solle bitte nicht sterben. Das sagte ich, weil ich dachte, er könne mir darauf nicht mehr antworten; es war, als redete ich mit mir allein. Aber er fand seine Stimme wieder, und sie war so kräftig wie zuvor.
    Er sagte: »Weißt du, daß mir keiner von euch je erzählt hat, wie es zum Tod deines Vater gekommen ist?« Und er sagte, er wünsche sich, daß ich es ihm nun erzähle. Ich fragte, was der Grund sei, daß er gerade jetzt diese Geschichte hören wolle. Er antwortete, es verkürze die Zeit, wenn man sich Geschichten erzähle, es sei auch gut gegen Schmerz. Ich sagte, daß ich ihm nicht glaube, daß ich eher annehme, er habe diese Nacht geplant, also daß dieser Nacht eine Dramaturgie zugrunde liege, und daß als letzter Akt die Erzählung vom Tod meines Vaters vorgesehen sei; daß ich aber nicht einsehe, was für einen Sinn das habe, und daß ich auf gar keinen Fall meinen Vater und seinen Tod zu ästhetischen Zwecken mißbraucht sehen möchte. Er sagte, das sei nicht der Fall, wie ich nur so etwas von ihm denken könne. Ich sagte, es tue mir leid. Er sagte, es tue ihm leid, wenn er in mir so einen Eindruck erweckt habe. Er lehnte seinen Kopf an den meinen. Ganz sicher war ich mir nicht, ob es Absicht war oder bloß die pure Schwerkraft. Er sagte, in gewisser Weise seien wir doch eine großartige Familie gewesen, mein Vater, meine Mutter, Margarida, ich und er. Ich sagte, nicht nur in gewisser Weise. Diese Formulierung hatte eine Bekräftigung sein sollen, mehr nicht; aber er fragte, was ich damit meine. Ich sagte, nicht nur in gewisser Weise seien wir eine großartige Familie gewesen, sondern in jeder Hinsicht. Obwohl ich mir nicht denken konnte, daß er tatsächlich nicht wußte, wie mein Vater gestorben und was seinem Tod vorausgegangen war, erzählte ich, was ich wußte.
    Als Frau Mungenast kam, war er eingeschlafen. Oder hatte das Bewußtsein verloren. Wir trugen ihn nach unten. Er war ja nicht schwer. Frau Mungenast hob ihn unter den Armen hoch, ich ging voran und hielt seine Beine. Im Bad kam er zu sich. Frau Mungenast drehte den Wasserhahn auf, und wir zogen Carl aus. Seine Haut war weiß und schien robust zu sein. An manchen Stellen, besonders in der Hüftgegend, waren blaue und gelbe Flecken. Die Knie waren ungewöhnlich groß und schrundig wie Auswüchse an Baumstämmen. Nun war er wieder bei sich selbst. Er lächelte mich an und sagte zu Frau Mungenast, sie solle nicht mich schelten, ich hätte keine Schuld, im Gegenteil, ich hätte ihn bereits ausgiebig gescholten, ich stünde auf ihrer Seite. Er fühle sich wunderbar, sagte er, der Ausflug in den Dachboden seines Hauses habe ihm gutgetan. Während Frau Mungenast ihn wusch, verließ ich das Badezimmer. Ich setzte in der Küche den Wassertopf auf und bereitete den Kaffee vor. Nach einer Weile rief mich Frau Mungenast. Sie hatte Carl ins Bett gebracht. Er wolle mich allein sprechen, sagte sie.
    Carl lag hoch in den Kissen. Er trug ein weißes Nachthemd. Seine Hände lagen auf der Zudecke. »Machen wir es kurz«, sagte er. Ich kniete mich neben sein Bett und legte meinen Kopf an seine Brust. Er streichelte mir übers Haar. Wir küßten uns, und ich verließ ihn.

Fadeout
    Heute vor einem Jahr ist Carl gestorben. Ich erinnere mich – und das heißt wohl auch, ich lüge mir eine Ordnung in die Dinge. Der Aprilhimmel ist, wie er immer war; die Weiden an der Donau beim Albernen Hafen sind nicht anders als vor fünfundvierzig Jahren, als ich zum erstenmal ihre Unterseiten im Wind blinken sah und dachte, es sei etwas Schreckliches passiert; Hunde mit blauen Augen sind seither in Mode gewesen und wieder aus der Mode gekommen und wieder Mode gewesen, nicht viel anders als die Stöckelschuhe; das Bohnerwachs im Stiegenhaus zu Roberts und Hannas Wohnung riecht, wie das Bohnerwachs in der Anichstraße in Innsbruck gerochen hatte (was mit Bestimmtheit einer der Gründe ist, warum ich die beiden so gern besuche); und jeden Freitag nachts um eins telefonieren Dagmar und ich miteinander, sie unter ihrer Zudecke in Frankfurt, ich unter der meinen in Wien; nun schon seit fast einem Jahr tun wir das, mit wenigen Ausnahmen. Nicht zu jeder Zeit meines Lebens würde ich mich zwischen noch nicht und nicht mehr für das erstere entschieden haben; aber meistens doch. Ja: Es bestehen gute Aussichten! Dagmar fährt mit einer Gruppe von Architekten und Städteplanern im Sommer nach Hongkong. Sie
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