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Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
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Mann seines Alters zugetraut. Wir hatten uns zwei Jahre lang nicht mehr gesehen und auch nicht miteinander telefoniert; und das war eine ungewöhnlich lange Zeit.
    »Ich habe«, sagte er, »gerade Inventur gemacht, und du bist der einzige Mensch von all jenen, die ich geliebt habe, der noch lebt.«
    Ich dachte: So teilt er mir mit, daß er bald sterben wird. Als ich mein Handy zuklappte, geriet ich so sehr in Aufregung, daß ich der Schwester klingelte und sie bat, mir ein Beruhigungsmittel zu geben. Erst in der Nacht, als die Wirkung nachließ und ich auf den matten Lichtstreifen starrte, der das Fenster hinter den Vorhängen nachzeichnete, gestand ich mir ein: Nicht der Gedanke, daß mein Freund den Tod kommen sah, hatte mich derart aus der Fassung gebracht, sondern die absurde Empörung darüber, daß er überhaupt sterblich war.
    Ich lag in Innsbruck im Krankenhaus, die Prostata war mir herausgeschnitten worden. Meine Stimme hörte sich in Folge der Intubationsnarkose wohl etwas rostig an. Bei einer routinemäßigen Blutuntersuchung im vorangegangenen November hatte der Computer ein Sternchen hinter meinen PSA-Wert gesetzt, was bedeutete, daß dieser zu hoch war. Eine Biopsie wurde durchgeführt, der Befund der histologischen Untersuchung war positiv: Krebs in einem frühen Stadium. Nach dem Autounfall vor fast zwanzig Jahren meinte ich nun zum zweitenmal in die schwarzen Augenringe zu blicken. Mein Arzt riet mir, mich in Innsbruck operieren zu lassen, dort habe man die besten Handwerker unter Vertrag.
    Carl sagte, er habe gespürt, daß ich in seiner Nähe sei; inzwischen getraue er sich auch, seine Ahnungen vor sich selbst einzugestehen, er habe nicht mehr die voltairesche Kraft zu behaupten, er sähe nichts, wenn er über den Grenzbalken schaue; außerdem sei es beinahe schon unschicklich, in seinem Alter an der Vorbestimmtheit der Ereignisse zu zweifeln. Ich für mein Teil hatte im Zug nach Innsbruck an ihn gedacht; mit schlechtem Gewissen freilich, weil ich mich so lange nicht bei ihm gemeldet hatte, und mit dem bangen Gefühl, er könnte vielleicht gar nicht mehr am Leben sein; und: mit einer paradoxen vorauseilenden Enttäuschung – er könnte vor seinem Tod niemanden beauftragt haben, mich nach demselben zu informieren.
    Nach zehn Tagen entfernte Dr. Strelka, mein Operateur, den Katheter, und ich wurde mit »den besten Aussichten auf Heilung« aus der Klinik entlassen. Ich fuhr hinauf nach Lans, und Carl und ich verbrachten unsere letzte gemeinsame Zeit. Ich richtete mich auf der Couch neben seinem Lehnstuhl ein; er erzählte, ich erzählte; wir hörten Musik und ließen uns von seiner Haushälterin und seiner Pflegerin verwöhnen. Letztere, Frau Mungenast, erlaubte ihm nur wenige Schritte, aber auf diese bestand er. Wenn er eine CD aus dem Regal nehmen wollte, faßte ich ihn an seinen Händen, die zart waren wie Reisig, und zog ihn aus seinem Sessel oder aus dem Rollstuhl hoch. Er dirigierte sich ins Gleichgewicht, wie ein Balanceur auf dem Hochseil; und stand schließlich, ruhig, gerade, als wäre er bereit, alle Ehren in Empfang zu nehmen. Sein Haar war weiß und noch voll und durchzogen von blaßgelben Streifen, die an seinen ehemaligen blonden Stolz erinnerten; stets hatte er es länger getragen, als es der Gepflogenheit seines jeweiligen Alters entsprach. Einen Meter neunzig war er groß, und nun, da er vom Alter und von seinen Leiden ausgezehrt war, erschien er mir größer denn je. In seinem hohen, schlanken, filigranen Körper war ein stählernes Gerüst eingesetzt. Hatte ich in den Jahren und Jahrzehnten denn nichts bemerkt? Irgendwann wurde dieser Körper nur noch von der Idee eines Stolzes gehalten. Die Muskulatur des Oberkörpers und der Oberarme bereitete ihm seit vielen Jahren Schmerzen. Anfänglich hatte er sich massieren und akupunktieren lassen, es hatte nichts genützt, und die Ärzte fanden nichts, und tatsächlich ergab sich keine Verschlechterung. Mehrere Jahre hatte er an einer chronischen Speiseröhrenentzündung herumlaboriert, Vernarbungen waren zurückgeblieben, das Essen wurde dadurch zu einem Problem. Er war an der Hüfte operiert worden, mehrere Male, schließlich war ihm ein Gelenkskopf aus Titan eingesetzt worden. Zwei Krebsoperationen hatte er hinter sich gebracht – mit sechzig Prostatektomie, zehn Jahre später schnitt man ihm ein Stück Dickdarm heraus. Aber hätte mich einer nach dem stärksten Mann gefragt, ich hätte geantwortet: der Professor Candoris. – So
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