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Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
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Vater erzählt viel.«
    »Es ist sein Beruf«, kam ich David zuvor, preßte alle entwaffnende Selbstironie, die sich über so einen schlichten Satz transportieren ließ, in meine Stimme, »und er hat von solchen Dingen in Wahrheit keine Ahnung.«
    David schien von dem Kampf, der sich zwischen meiner Mutter und mir anbahnte, nichts zu bemerken. Noch keine fünf Minuten waren wir in ihrem Zimmer, und schon hatte mich eine Streitlust ergriffen. David legte sich auf das Bett, die Füße ließ er an der Seite herunterhängen, die Arme verschränkte er im Nacken. Meine Mutter und ich saßen uns gegenüber und vermieden es, uns in die Augen zu sehen. Der Raum war durch eine Neonröhre beleuchtet, die hinter einem altdeutsch furnierten Deckensturz verborgen war. Ich sah mein Gesicht in dem Spiegel an der Wand hinter dem Rücken meiner Mutter.
    »Ich habe einen Krebs gehabt«, sagte ich.
    »Ich auch«, sagte sie.
    Ich griff nach ihrer Hand. »Und? Ist alles gut?«
    »Alles ist gut. Und bei dir?«
    »Ist auch alles gut.«
    Sie wußte nicht, wie sie aus meiner Hand herausfinden sollte, ohne in mir den Eindruck zu erwecken, das Gute sei damit beendet; und mir erging es gleich.
    »Darf ich hier bei dir eine rauchen?« fragte David.
    »Gern.«
    »Möchtest du auch eine?«
    »Nein, danke.«
    »Dürft ihr nicht rauchen?«
    »Wir tun es nicht.«
    »Aber grundsätzlich dürftet ihr?«
    »Ich glaube schon.«
    »Und wenn ich dich besuchen käme, dürfte ich bei euch rauchen?«
    »Natürlich.«
    »Dürfte ich dich überhaupt besuchen kommen?«
    »Wenn du dich vorher anmeldest.«
    »Und würdest du das haben wollen?«
    »Und wie gern!«
    »Und du dürftest mit mir reden?«
    »Das dürfte ich selbstverständlich, mit meinem Enkel reden.«
    »Also ihr dürft völlig normal miteinander reden?«
    »Zu bestimmten Zeiten.«
    »Was heißt das?«
    »Eine Stunde am Tag.«
    »Und jetzt ist gerade diese Stunde?«
    »Nein, ich habe eine Sondererlaubnis. Heute darf ich so viel reden, wie ich für richtig halte. Und morgen auch noch.«
    David wandte sich an mich. »Das ist doch interessant, oder? Mehr als eine Stunde am Tag reden muß man eh nicht, findest du nicht?« Er hielt mir die Schachtel hin. »Möchtest du eine, Sebastian?«
    »Vielleicht gehen wir besser hinunter in den Speisesaal«, antwortete ich, und mein Ton war so ungeduldig, daß sie mich beide erschrocken ansahen. »Vielleicht ist deine Mutter ja inzwischen gekommen und wartet«, versuchte ich zu relativieren.
    David sprang vom Bett. »Ich geh und schau nach, ob sie schon angekommen ist. Ich kann mir vorstellen, daß ihr mich im Augenblick nicht brauchen könnt.« Und war zur Tür hinaus, Zigarette zwischen den Zähnen.
    Langsam bis auf zehn gezählt und noch ein Stück weiter in die Zwanziger hinein, war es still zwischen uns.
    »Laß uns gemeinsam an etwas Gemeinsames erinnern«, sagte sie schließlich, und ich wollte es nicht denken, aber ich dachte es doch: Das nun ist das süße Vokabular der Kerzenschlecker. Haben sie dich also vollständig umgedreht, erst umgedreht und am Ende gegen den Rest deiner Familie losgeschickt?
    »Du zuerst«, sagte ich.
    Immer noch hielt sie meine Hand fest. So souverän beherrschte sie den Raum, daß ich überall Symbole für unsere Situation entdeckte – die Kälte des Neonlichts, das Vorspielen von Bürgerlichkeit durch falsches Nußholz, die bilderlosen, leeren Wände …
    »Als ich im Zug gesessen bin«, begann sie, »habe ich daran gedacht, wie wir beide fast ein Jahr lang allein gewesen waren, als Papa in Amerika war, als du deine Sporthefte geklebt hast, Läufer und Weitspringer, weißt du das noch? Vielleicht hast du die Hefte ja noch. Hast du sie noch? Du hebst doch alles auf. Alles, was du schreibst oder bastelst, hebst du auf, immer noch, habe ich recht? Eine Schnelläuferin gab es, eine Amerikanerin, ich weiß ihren Namen nicht mehr, alles Amerikanische hat uns interessiert, weil Papa ja in Amerika war, als Kind hatte sie eine schwere Krankheit gehabt, sie konnte nur mit Krücken gehen, glaube ich, irgendwo stand das, du hast gesagt, sie sieht mir ähnlich. Das war natürlich ein Blödsinn. Erstens war sie viel hübscher als ich, und sie war schwarz. Du hast das natürlich gewußt, daß sie mir keine Spur ähnlich sieht. Aber ich war eine Woche lang stolz. Und sie hat mir so leid getan. Obwohl sie soviel Erfolg gehabt hat. Sie hat mir so leid getan, ich kann es dir gar nicht sagen, wie. Jetzt läuft sie und läuft sie, aber laufen wie ein
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