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Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
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durch Deutschland und nach Finnland fuhr und weiter nach Petrograd, saß er hier. Als ein Dollar eine Billion Mark kostete und zehntausend Kronen gegen einen Schilling umgetauscht wurden und ein Erdbeben Tokio und Yokohama zerstörte und sich Hitler nach seinem gescheiterten Putsch das Leben nehmen wollte und die unglückselige Helene Hanfstaengl ihm die Waffe aus der Hand riß, saß er hier. Als mein Großvater sein Viertel jüdischen Blutes dreimal hintereinander verriet und kein Hahn krähte, saß er hier. Als seine beiden Schwestern starben, erst Franziska, dann Friederike, beide in Frieden, wie mir versichert wurde, saß er hier und blickte hinaus auf den Rosengarten. Als meine Mutter von dem Bombensplitter an der Schläfe getroffen wurde, saß er hier, und als Valerie vergewaltigt wurde, saß er hier. Als Bruder Kurabashi sich mit Maiskeksen vollstopfte, saß er hier, und als er sich die Arme aufschnitt und sie jauchzend in die Kamera reckte, saß er auch hier. Und er war hier gesessen, als der armenische Riese Aszaturow wie ein Schwein Kopf nach unten aufgehängt wurde, vielleicht nur deswegen, weil er zur unrechten Zeit den Namen Stalins ausgesprochen hatte. Als die Deutsche Wehrmacht in Polen einmarschierte, als die Konzentrationslager in Auschwitz, Bergen-Belsen, Mauthausen, Treblinka, Sobibor errichtet wurden, als die Atombomben fielen und die Bomben auf Korea und Vietnam, als Mao mordete, als In my Solitude und Them There Eyes und Sophisticated Lady und Round Midnight komponiert wurden, als Lumumba ermordet wurde und John F. Kennedy und Martin Luther King, als Neil Armstrong und Edwin Aldrin auf dem Mond spazierten, saß er hier, und auch als George Lukassers Lassithi Dreams aufgenommen wurde, die schönste Musik, die ich kenne – hat er in diesem Polsterstuhl gesessen. Und als Edith Stein heiliggesprochen wurde, hat er hier gesessen, wie er schon hier gesessen hatte, als Frau Professor Noether an jenem Abend in Moskau den Tee aus dem Schnabel der Kanne trank. Und jedesmal, wenn Einstein und Gödel miteinander in Princeton vom Institute for Advanced Study nach Hause spazierten, saß er hier. Ja, und als ich 1952 Abe in New York besuchte und ihm einen Tag und eine Nacht lang half, Wahlaufrufe für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Adlai Ewing Stevenson zu falten und er mir noch einmal, zum letztenmal, Avancen machte und ich mir ehrlich überlegte, ob ich darauf eingehen sollte, nicht weil ich Lust dazu verspürt hätte, nicht die geringste, sondern weil mich noch einmal, zum letztenmal, eine Gier auf ein abenteuerliches Leben erfaßte – da saß er hier. Und jedesmal, wenn sich Margarida mit ihrem Geliebten, den sie gar nicht liebte, traf, saß er hier, und als deine Mutter deinen Vater kennenlernte, war er auch hier gesessen. Und als du, Sebastian, geboren wurdest und dein Leben hattest bis zur Matura und dein Studium in Frankfurt aufgenommen hast und diese wirklich originelle Hausarbeit über Apuleius geschrieben hast, über den ich vorher so gut wie nichts gewußt hatte, saß er hier. Hat nichts getan, als hier zu sitzen, sechsundsechzig Jahre lang. Zum Mittagessen hat man ihn abgeholt, dann zum Spaziergang durch den Garten, dann zum Abendessen. Er habe, erzählte mir Dr. Lengerke, keine Zeitungen gelesen, er habe nicht Radio gehört, und Fernsehen habe ihn auch nicht interessiert. Er habe mit niemandem Kontakt gehabt und mit den Pflegern nur das Notwendigste gesprochen.
    Das ist nicht gerecht.
    Es ist nicht gerecht.
    Es ist nicht gerecht.
    Bald nachdem ich aus Berlin zurückgekehrt war, hat mich deine Mutter angerufen und hat mir das Schreckliche mitgeteilt. Das heißt, Margarida war am Apparat. Sie hat geschrien. Und als ich ins Zimmer gelaufen kam, kniete sie am Boden und hielt mir den Hörer entgegen. ›Georg hat sich das Leben genommen.‹ Ich habe dich in Frankfurt angerufen. Weil mich deine Mutter darum gebeten hatte. Sie konnte es nicht.«

Sechzehntes Kapitel
1
    Erst zehn Tage nach Carls Ableben fand die Beisetzung statt. Ich weiß bis heute nicht, was der Grund für diese ungewöhnlich lange Frist war. Zweimal rief mich Frau Mungenast an, um mir mitzuteilen, daß die Freigabe des Leichnams abermals verschoben worden sei. Ich schickte jedesmal ein Fax nach Fouquières les Béthune – in Deutsch und in Französisch (Evelyn buchstabierte mir die Übersetzung am Telefon) –, in der Hoffnung, meine Mutter würde von ihrer Oberin verständigt und würde die Erlaubnis erhalten, zur
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