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Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
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hinausfuhr nach Zehlendorf und dort das Sanatorium Stabenow suchte und es fand – da lebte er nicht mehr. Hanns Alverdes sei vor sieben Tagen gestorben, teilte mir Dr. Lengerke mit. Ohne Vorwurf. Ein noch junger Mann. In deinem Alter, ein, zwei Jahre älter vielleicht, lange lockige Haare. Ich fragte, ob ich mir das Zimmer meines Großonkels ansehen dürfe, ob es noch erhalten sei. ›In eine Gedenkstätte werden wir es nicht umwidmen‹, lachte er. Es sei noch alles so, wie es sechsundsechzig Jahre lang gewesen war. Genau so. Soweit er das mit Hilfe der Aufzeichnungen der Anstaltsleitung überblicken könne, sagte Dr. Lengerke, habe Herr Alverdes nichts in diesem Zimmer verändert. Er führte mich in den hinteren Teil des Gebäudes. Das Haus sei im Laufe der Jahre um die Zelle ihres Dauerpatienten herum umgebaut und renoviert worden, dabei faßte er mich am Ellbogen, das ist etwas, was ich nie leiden konnte. Vor der Tür blieb er stehen. Er werde eine der Schwestern bitten, mir Kaffee zu bringen, sagte er. Ob ich ein Stück Apfelkuchen dazu wünsche? Gern, sagte ich. Und drückte die Klinke zu dem ältesten Zimmer in dieser Anstalt nieder.«
    Inzwischen machten ihm die Schmerzen so sehr zu schaffen, daß er seine Worte in knappen Portionen vorbrachte, ohne daß allerdings der Satzbau darunter gelitten hätte. Keine Kontaminierung des Geistes durch den Körper. Der da sprach, war nicht, der da saß. Als stemmte der, der er einmal gewesen war, den, der vor Schmerzen an sich selbst niedersank, ein letztes Mal und mit der Kraft all der Ichs, an die er sich erinnerte, vor die Schwelle zwischen Sein und Nichtsein. Tatsächlich hörte ich seine Stimme inzwischen nahe dem Fußboden; er war zur Seite gesunken.
    »Wir wollen es gut sein lassen«, sagte ich, »bitte, Carl! Du kannst dich in meinem Bett ausruhen, bis Frau Mungenast kommt. Erzähl mir das Ende, wenn du geruht hast, wenn wir gefrühstückt haben. Erzähl’s mir unten am See oder beim Wald.«
    »Nein, nein«, sagte er, aber ohne Ungeduld, »nein, nein, nein! Frau Mungenast wird kommen, sie wird nicht schimpfen, weil sie nämlich ein schlechtes Gewissen hat, ihr werdet mich gemeinsam nach unten bringen, ich werde lange schlafen, weil sie mir eine Spritze geben wird. Aber, Sebastian, wenn ich aufwache, möchte ich, daß du nicht mehr hier bist. Versteh’ mich nicht falsch, und laß’ es mich dir nicht erklären müssen.«
    Er habe, erzählte Carl weiter, bei Apfelkuchen und Kaffee eine gute Stunde lang in dem Zimmerchen gesessen, in dem sein Großonkel durch einen geraumen Teil des Jahrhunderts aufbewahrt gewesen sei. »Aufbewahrt« nenne er es mit Absicht; nämlich, damit er kein Leid anrichte, aber auch, damit ihm kein Leid geschehe. In dem Raum habe ein Geruch geherrscht – scharf, nach altem Holz, das kam von der Vertäfelung an den Wänden und den unbehandelten Holzriemen und dem Mobiliar; vor allem aber nach Zeltplane, anders könne er den Geruch nicht bezeichnen, nach alter Zeltplane, muffig und zugleich hitzespröd, als wäre hier irgend etwas einem raschen Wechsel von Feuchtigkeit und Hitze ausgesetzt – er habe sich auch nach einer Stunde nicht an diesen Geruch gewöhnt, seine Kleider hätten sich damit angesoffen, was ihm tagelanges Unwohlsein bereitet habe. Die Einrichtung sei spärlich gewesen; kein Bild an den Wänden, nirgends auch nur eine Spur von Schmückung; kein Radioapparat, kein Fernseher. Nichts Eigenes – abgesehen davon, daß nach so langer Zeit die Einrichtungsgegenstände – Bett, der Polsterstuhl, auf dem er saß, ein quadratischer Holztisch, ein Nachtkästchen, ein schmaler Kleiderschrank – durch Berührung, vielleicht schon durch das viele Anschauen sich der Person des Einsitzenden angeglichen hätten und schließlich doch zu etwas unverwechselbar Eigenem geworden seien. Ein monströser Gedanke sei ihm gekommen: »So, wie ich hier sitze, dachte ich, so ist er gesessen durch sechsundsechzig Jahre, Tag für Tag. Als mir mein Großvater erzählte, daß Roald Amundsen als erster den Südpol erreicht habe, saß er hier. Als mir mein Großvater vom Untergang der Titanic erzählte, saß er hier. Als Kandinsky sein erstes abstraktes Bild malte, saß er hier und auch, als Freud in der Berggasse seine Wunder wirkte und Herr Carnap in der Boltzmanngasse über die Sinnlosigkeit der Metaphysik referierte. Als ich dem Fräulein Stein half, meine Tanten ins Leben zurückzuholen, saß er hier. Als Lenin in dem verplombten Zug von Zürich
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