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Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
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Chörlein aus Sopran, Alt und Bariton verband; hier kannte jeder seinen Part und den Part des anderen. Die Tür stand noch offen – ich, einen Fuß im Zimmer meiner Mutter, den anderen draußen im Gang, überlegte, ob ich nicht einfach weglaufen sollte. Wie ich es nach Margaridas Beerdigung getan hatte. Hatte ich mich je näher bei mir selbst gefühlt als in Brooklyn in meinem Zimmer über Mr. Alberts Wohnung? Ich und meine Genossinnen und Genossen – William Blake, Emily Dickinson, William Carlos Williams und William Butler Yeats: I came upon a little town  /  That slumbered in the harvest moon,  /  And passed a-tiptoe up and down,  /  Murmuring, to a fitful tune,  /  How I have followed, night and day,  /  A tramping of tremendous feet,  /  And saw where this old tympan lay  /  Deserted on a doorway seat,  /  And bore it to the woods with me …
    Ein Mann und eine Frau, beide weit oben in den Siebzigern, kamen den Korridor herunter. Sie winkten mir zu. Die Frau hielt mir im Vorübergehen die Hand hin, eine kleine, stämmige Person. »Wir sehen uns morgen oben in Lans«, sagte der Mann mit einem Akzent, den ich nicht zuordnen konnte. Sie sagte: »Vielleicht finden wir morgen ja Zeit für ein paar Worte, das würde mich sehr freuen.« Ich glaubte nicht, die beiden schon einmal gesehen zu haben.
    David stand neben mir. »Ist was mit dir? Komm doch zu uns! He, komm doch zu uns! Mach die Tür zu und komm zu uns!«
    »Du hinkst ja«, rief Dagmar aus dem Zimmer. »Warum hinkst du denn?«
    »Tatsächlich, du hinkst ja immer noch«, stimmte meine Mutter ein.
    »Der Bocksfuß wächst mir heraus«, sagte ich.
    In der Nacht klopfte ich an Dagmars Tür. Sie öffnete, und wir fielen einander in die Arme; sie hielt mit abgespreizten Ellbogen mein Gesicht zwischen ihren Händen, legte dabei ihren Kopf ein wenig schief, wie ich es so gut kannte, und küßte mich auf die Augen und auf die Nase und auf die Stirn und auf mein Kinn und auf meine Wangen und vermied, meinen Mund mit ihren Lippen zu berühren. Ich suchte ihre Ohren mit meinen Lippen, einmal hatte sie nämlich gesagt, wenn sie meine Zunge in ihrem Ohr spüre, sei sie erledigt, und ich wollte sehen, ob es noch so ist. Wir legten uns auf ihr Bett und drückten uns aneinander, aber die Kleider zogen wir nicht aus, und wir achteten darauf, daß wir nicht übereinander und untereinander zu liegen kamen, und das Licht löschten wir nicht.
    »Wollen wir das in Zukunft weiter tun, nachts miteinander telefonieren?«
    »Jede Nacht? Dann kannst du mich nach einer Woche zusammenkehren. Ich muß ja arbeiten.«
    »Einmal in der Woche? Freitags?«
    »Aber warum? David kommt mit mir mit. Es gibt keinen Grund mehr zu telefonieren. Er kommt doch mit mir mit?«
    »Darüber haben wir nicht gesprochen. Ich gehe davon aus.«
    »Du hast es gut gemacht.«
    »Danke.«
    »Du hast gut auf ihn aufgepaßt.«
    »Danke.«
    »Was, denkst du, soll daraus werden? Du denkst doch, es soll etwas daraus werden. Also, was?«
    »David wünscht sich, daß seine Eltern wieder zusammenkommen.«
    »Das wünscht er sich nicht. Das hast du jetzt erfunden. In diesem Augenblick. Du willst wissen, wie ich reagiere, wenn du so etwas sagst. Aber vor allem willst du wissen, wie du selbst reagierst. Mach’ keinen Witz aus der Sache, bitte, Sebastian! Oder verschwinde in dein Zimmer. Er wäre wahrscheinlich empört, wenn er wüßte, daß wir miteinander im Bett liegen.«
    Ich stand auf und ging ins Bad, zog die Tür hinter mir zu und ließ Wasser in die Wanne laufen. Ich schloß eine Wette mit mir ab: Wenn sie kommt, wird alles ohne mein Zutun gut, wenn sie nicht kommt, nicht; und definierte auch gleich, was »es wird alles gut« heißen sollte, nämlich: es wird mir alles in allem ein wenig besser gehen als bisher – so viel sollte verlangt werden dürfen. Ich zog mich aus, stieg ins Wasser, wusch mir die Haare mit Seife aus dem hoteleigenen Seifenspender, verteilte den Schaum über meine Haut, putzte mir mit Dagmars Zahnbürste die Zähne, rieb mich mit dem weißen Badetuch ab, trocknete die Haare mit dem Fön, dessen Schnur kurz genug war, um nicht bis an den Wannenrand zu reichen. Ich zog mich an und setzte mich auf den Toilettendeckel. Elvis Presley fiel mir ein; daß er auf der Toilette gestorben war; irgendwo hatte ich gelesen, sein Leben habe um ein paar Traummotive gekreist, die gleichsam die musikalische Substanz dieses Lebens gebildet hätten. Rettung könnte von Chuck Berry kommen. Wenn wir in
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