Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
80 Days - Die Farbe der Lust

80 Days - Die Farbe der Lust

Titel: 80 Days - Die Farbe der Lust
Autoren: V Jackson
Vom Netzwerk:
Royal Festival Hall zu spielen. Wie hätte es auch anders sein können.
    Um drei Uhr nachmittags wachte ich erholt und mit wesentlich besserer Laune auf. Ich bin von Natur aus Optimistin. Man muss schon ein gewisses Maß an Verrücktheit, eine sehr positive Einstellung zum Leben oder von beidem etwas haben, um mit nichts als einem Koffer, einem leeren Bankkonto und einem Traum um die halbe Welt zu reisen. Miese Stimmung hielt sich bei mir nie lang.
    Ich habe viele Klamotten extra fürs Musizieren auf der Straße und in der U-Bahn, zusammengesucht auf Flohmärkten und bei eBay, denn ich habe nun mal wenig Geld. Jeans trage ich selten, da meine Taille im Verhältnis zu meinen Hüften sehr schmal ist und die meisten Hosen bei mir nicht sitzen, was jede Anprobe zur Qual macht. Röcke und Kleider sind mir lieber. Ich habe zwar eine abgeschnittene Jeans für meine »Cowboy-Tage«, an denen ich Countrymusik spiele, aber heute, das spürte ich, war ein »Vivaldi-Tag«, und Vivaldi erforderte ein eher klassisches Outfit. Das schwarze Samtkleid wäre meine erste Wahl gewesen, aber das lag zerknittert auf dem Wäschehaufen, wo ich es gleich am Morgen hingeworfen hatte. Es musste dringend in die Reinigung. Also wählte ich einen schwarzen, knielangen Rock mit angedeutetem Schwalbenschwanz und eine cremefarbene Seidenbluse mit zartem Spitzenkragen, die ich mal bei einem Trödler gekauft hatte, beim selben, bei dem ich auch das Kleid gefunden hatte. Dazu trug ich eine blickdichte Strumpfhose und Schnürstiefeletten mit niedrigem Absatz. Das Ganze sollte züchtig-viktorianisch wirken, ein Look, den ich liebte und den Darren verabscheute. Trödlerklamotten waren für ihn etwas, das nur wasser- und seifenscheue Möchtegern-Bohemiens trugen.
    Ich erreichte Tottenham Court Road, eine Station, für die ich eine Lizenz zum Musizieren hatte, als gerade die Rushhour einsetzte. Ich suchte mir einen Platz vor der Wand unterhalb der ersten Rolltreppen. In einer Zeitschrift hatte ich mal gelesen, dass die Leute gegenüber Straßenmusikanten freigebiger sind, wenn sie Gelegenheit haben, sich ein paar Minuten zu überlegen, ob sie Geld geben wollen oder nicht. Darum erschien es mir günstig, mich an einer Stelle zu postieren, an der die Pendler mich schon von der Rolltreppe aus sehen und nach ihren Geldbeuteln kramen konnten, bevor sie an mir vorbeigingen. Ich stand ihnen auch nicht direkt im Weg, was in London besser ankommt. Die Leute möchten das Gefühl haben, aus freien Stücken ein, zwei Schritte auf mich zu zu gehen, wenn sie mir Geld in den Geigenkasten werfen.
    Ich wusste, dass ich mit den Spendern Augenkontakt aufnehmen und sie dankbar anlächeln sollte, aber oft verlor ich mich so sehr in meiner Musik, dass ich es einfach vergaß. Wenn ich Vivaldi spielte, konnte ich zu niemandem Kontakt aufnehmen. Ich hätte es wahrscheinlich nicht einmal gemerkt, wenn im U-Bahnhof der Feueralarm losgegangen wäre. Kaum hatte ich die Geige ans Kinn gelegt, waren die Pendler für mich auch schon verschwunden. Tottenham Court Road löste sich auf. Es gab nur noch mich und Vivaldi.
    Ich spielte, bis mir die Arme wehtaten und mein Magen zu knurren begann, beides sichere Zeichen, dass ich hier bereits länger stand, als ich geplant hatte. Um zehn Uhr abends war ich zu Hause.
    Erst am nächsten Morgen, als ich meine Einnahmen zählte, entdeckte ich einen bankfrischen roten Schein, der ordentlich in einem kleinen Riss des Samtfutters steckte.
    Jemand hatte mir fünfzig Pfund gegeben.

2
EIN MANN UND SEIN BEGEHREN

    Das Schicksal geht oft seltsame Wege. Manchmal kam es ihm vor, als wäre sein Leben an ihm vorbeigezogen wie ein Fluss, dessen Windungen öfter, als ihm lieb war, von unbedeutenden Ereignissen oder Menschen bestimmt worden waren. Als hätte er es seit Kindheitstagen nie wirklich in der Hand gehabt und wäre durch die Teenagerjahre und die ersten Kämpfe der Jugend willenlos wie eine Nussschale in fremden Meeren dahingetrieben, bis er in die ruhigeren Gewässer der mittleren Jahre einlief. Aber saßen sie letztlich nicht alle im selben Boot? Vielleicht war er einfach nur ein besserer Steuermann gewesen und auf seiner Fahrt von besonders heftigen Stürmen verschont geblieben.
    Er hatte die heutige Vorlesung überzogen – zu viele Fragen der Studenten, die den Ablauf unterbrachen. Nicht dass ihn so etwas störte. Je mehr sie fragten und nachhakten, desto besser. Es bedeutete, dass sie aufmerksam und am Thema interessiert waren. Das war keineswegs
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher