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240 - Zeitsplitter

240 - Zeitsplitter

Titel: 240 - Zeitsplitter
Autoren: Manfred Weinland
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des Wassers.
    Seufzend sank Parker in den angetauten Schnee. Die Augen mit den behandschuhten Händen geschützt, wanderte sein Blick vom Wrack weg. Ihm war übel, was er vorher gar nicht gemerkt hatte. Aber jetzt überrollte ihn ein Gefühl, das Brechreiz weckte und lähmende Schwäche durch jeden Muskel trieb.
    Überrascht von der verspäteten Reaktion seines Körpers – ich habe den Schock unterschätzt! –, kippte der Staff Sergeant zur Seite und konnte nicht verhindern, dass sich ein Tunnelblick einstellte. Von allen Seiten rückte die Schwärze heran, bis er das Gefühl hatte, nur weit voraus noch eine stecknadelkopfkleine Lücke zu sehen, durch die Licht zu ihm hereinfiel.
    Aber auch dieser Funke erlosch, und die Ohnmacht deckte ihn zu. Den Rest übernahm das Weiß, das unaufhörlich vom Himmel fiel.
    ***
    Zum zweiten Mal kam er zu sich und wunderte sich, nicht erfroren zu sein. Wie viel Zeit vergangen war, wusste er nicht, weil die Armbanduhr beim Absturz zu Bruch gegangen war; irgendwie verrückt, fand Parker, dass ein so kleines Ding weniger aushielt als ein Mensch. Doch dann erinnerte er sich, dass es jemanden gab, der ebenso wenig ausgehalten hatte.
    Der Gedanke an Huxley ließ ihn erst die Lider und dann den Kopf heben. Letzterer knirschte… nein, es war wohl nur der steif gefrorene Kragen der Pilotenjacke. Parker hob ächzend den linken Arm und wischte sich mit dem Handschuh den Schnee vom Gesicht. Zuerst war sein Blick verschwommen, aber nach einer Weile sah er klar.
    Es war hell, wie schon all die Wochen davor, die Staff Sergeant Parker in der Südpolregion verbracht hatte. Hier währte der Polartag rund sechs Monate, bis Ende des Monats noch, dann folgte die Polarnacht, die sich bis Ende Juli erstrecken würde. Ein halbes Jahr trostlose Helligkeit, ein halbes Jahr trostloses Dunkel – welcher wahnsinnige Gott hatte sich das ausgedacht? Parker kannte kein Mitglied der Highjump-Mission, das diesen nicht enden wollenden Tag, der die einen ost- und die anderen westwärts die Küste der Antarktis entlang führte, nicht schon verflucht hätte. Dazu das vom Eispanzer überzogene Land, Schelfeis, kalbende Gletscher und dahin treibende Eisberge.
    Wahrscheinlich war es kein Gott, sondern derselbe Dämon, der sich Hitler und das Naziregime ausgedacht hatte. Seit knapp zwei Jahren war der braune Spuk vorbei – wann immer Parker sich dies ins Gedächtnis rief, schauderte er. Er hatte gute Freunde am Strand der Normandie verloren.
    Ächzend kam er auf die Beine. Die Kälte war unter seine Kleidung gekrochen, aber erstaunlicherweise hatte sie ihn nicht umgebracht. Die Brände am und im Wrack waren erloschen, aber offenbar erst vor wenigen Minuten, denn das geschwärzte Metall war noch heiß, wie Parker feststellte, als er den Trümmerhaufen erreichte, der wie ein zertretenes Insekt inmitten der Polarlandschaft lag.
    Unweit erhob sich eine kleinere Wölbung, dort, wo Parker seinem Kopiloten in die eisüberkrusteten Augen geblickt hatte. Inzwischen deckte ihn eine zolldicke Schneeschicht zu.
    Im Grunde war das Grab genug, mehr brauchte es nicht. Und wenn Rettung kam – fast war Parker versucht, irre aufzulachen –, würde Huxley ohne Probleme geborgen und nach Hause gebracht werden können. Und seine Mary würde Abschied von ihm nehmen, wie es sich gehörte.
    Parker sammelte Speichel und spuckte gegen die Wand des Wracks. Kein Zischen.
    In diesem kontinentgroßen Kühlschrank verflüchtigte sich Wärme fast so schnell wie ein Leben.
    Parker inspizierte die erbärmlichen Reste dessen, was von dem einst stolzen Flugboot geblieben war. Es war wenig mehr als nichts. Nichts, was ihn irgendwie weitergebracht hätte. Das Cockpit war vollkommen verkohlt und verschmort, jedes Gerät darin irreparabel zerstört. Und der Sprit in den Tanks war entweder abgefackelt oder versickert. Ein zweites Feuer würde sich nicht entfachen lassen.
    Wenigstens war der Sturm abgezogen. Doch die stille glitzernde Welt ringsum schien auch nur dazu geschaffen, den kleinen Menschen, der sich in sie verirrt hatte, zu verhöhnen.
    Parker blickte zum Himmel. Er drehte sich langsam um die eigene Achse und suchte das Zwielicht ab, das über der weißen Landschaft lag. Außer dem jämmerlichen Wrack und dem jämmerlichen Überlebenden gab es nichts, was auch nur entfernt an Zivilisation erinnert hätte.
    Zum ersten Mal seit dem Absturz spürte Parker die Einsamkeit mit brachialer Wucht. Zitternd wartete er minutenlang auf ein Geräusch, das nicht
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