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214 - Der Mann aus der Vergangenheit

214 - Der Mann aus der Vergangenheit

Titel: 214 - Der Mann aus der Vergangenheit
Autoren: Michael M. Thurner
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müssen Doktor Léveraux aufsuchen. Er ist ein Spezialist für den Aderlass, und seine Kuren sollen Wunder bewirken…«
    »Wir reden morgen darüber, Madame Hinault«, schnitt Jean-François das Thema kurzerhand ab. »Gute Nacht nun.«
    »Ja. Gute Nacht.«
    Die Schritte der Wirtin entfernten sich langsam, zögernd. Sie schlief im gegenüber liegenden Raum.
    Nachdem sich seine finanzielle Situation durch kleinere Entdeckungen gebessert hatte, war er einen Stock tiefer gezogen und bewohnte nunmehr eine Zimmerflucht, in der er seine Bücher stapeln und sogar kleinere Experimente unternehmen konnte.
    Jean-François tastete nach einem Schwefelstäbchen, rieb es über den Zunderschwamm und brachte eine Kerze zum Leuchten. Im Lichterschein verließen ihn die Ängste, und der Schweiß an seinem Körper trocknete rasch.
    Er lachte auf, kurz und trocken.
    Seine kleinen Entdeckungen…
    Geringe, geringfügige Beiträge waren es, die der Verwendung des Phosphorlichts zum Durchbruch verholfen hatte, das der Menschheit ein wenig mehr Licht in der Dunkelheit schenkte. Jean-François lachte bitter auf. Er selbst, gerade er, verzichtete auf das weiße Licht und hielt sich nach wie vor an den Schwefel.
    Dann war da noch die Entwicklung eines vereinfachten Gerbungsprozesses gewesen, der es ermöglichte, Fabriken zu eröffnen und die Gerberweiber an den Ufern der Seine großteils von den Gefahren ihrer schrecklichen Arbeit zu befreien. Keine verätzten Rachen mehr, keine für den Lebtag verfärbten Arme.
    Die Akademie hatte ihn ausgezeichnet und mit einer jährlichen Pension bedacht, vom königlichen Patentamt flossen zögerlich weitere Gelder. Viele Sous und kaum Livres. Ausreichend, um sein Leben angenehm zu gestalten.
    Viel zu wenig, um die wirklich großen Versuche zu unternehmen.
    Er spritzte sich Wasser aus dem Lavoir ins Gesicht und entrichtete seine Notdurft in den Nachttopf.
    Reims war ein Reinfall gewesen. Er hatte gedacht und gehofft, den eingefahrenen Routinen seiner Forschungen in Paris entkommen zu können und im Zuge eines Neuanfangs als professeur in der Provinzstadt seine Ruhelosigkeit in den Griff zu bekommen. Das Gegenteil war der Fall gewesen. Die dortigen Kollegen an der Akademie hatten ihn gebremst, jeden seiner Forschungsansätze von vornherein unterbunden und ihn abfällig als »den stolzen Pariser« bezeichnet. Die Reimser waren stolz auf ihre konservative Weltanschauung, und sie verachteten alles Neue. Nur widerwillig akzeptierten sie Weiterentwicklungen, und sie stemmten sich mit aller Vehemenz gegen die Ideen der Aufklärung, die hier in Paris so hell leuchteten.
    »Morgen wird vielleicht alles besser«, sagte er sich.
    Morgen, wenn man ihn dank seiner unermüdlichen Forschungstätigkeit auf vielerlei Gebieten, die auch in Reims nicht hatte eingebremst werden können, zum Kabinettsintendanten der Chemie, der Physik und der Naturwissenschaften im Allgemeinen ernannte.
    Mit diesem tröstlichen Gedanken schlief er doch noch ein, während über den Straßen von Paris der Morgen dämmerte und die ersten Marktweiber laut kreischend ihre Waren anpriesen.
    ***
    Maître nannte man ihn nun. Ihn, den Siebenundzwanzigjährigen. Man applaudierte ihm in der Akademie der Wissenschaften, man sprach ihm die Hochachtung aus, man pries seinen analytischen Verstand, seinen Mut, seine Inspiration.
    Zu wenig, zu wenig!, schrie es in ihm. Der große Plan fehlt mir nach wie vor. Das Bild, in dem die Farben ineinander fließen und ein Ganzes ergeben…
    » Auf ein Wort, Maître de Rozier!«, hörte er eine bekannte Stimme hinter sich.
    Zögernd, fast ängstlich drehte er sich um. »Justin de Balzac«, sagte er leise, »es freut mich, Euch hier zu sehen.«
    »Umso bedauerlicher ist es, dass ich diese Freude nicht teile.«
    Die Stimme des Alten war brüchig. Er stand vornüber gebeugt, die Schultern zitterten. Die Jahre nagten an ihm.
    »Wie geht es Magdeleine?«, fragte Jean-François. »Das letzte Mal, als ich sie sah, das war… hm…«
    »Vor fünf Jahren, junger Herr. Ich habe sie kurz danach fortgeschickt aus Paris.«
    »Ich gratuliere Euch zu diesem Entschluss. Der Gestank in der Stadt ist grauenhaft. Wir täten gut daran, diese Kloake abzureißen und an anderer Stelle völlig neu wieder aufzubauen.«
    »Es war nicht die Stadt, wie Ihr sicherlich wisst.« Für einen Augenblick kehrte zorniges Feuer in die Augen de Balzacs zurück. »Ihr habt ihr das Herz gebrochen. Leere Versprechungen, endlose Hinhaltungen. Die Erfahrung, dass
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