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214 - Der Mann aus der Vergangenheit

214 - Der Mann aus der Vergangenheit

Titel: 214 - Der Mann aus der Vergangenheit
Autoren: Michael M. Thurner
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von der flotten Vivienne, von der dicken Oiseau aus den Obsthallen, den beiden Maries, die du gerne im Duett genießt, von Luise, von der Witwe Girardout, die dir beischläft und danach mit Tränen in den Augen ihres verstorbenen Mannes gedenkt, von der angeblich so keuschen, jungfräulichen Giselle von der anderen Straßenseite…«
    »Nichts weiß sie«, schnappte Jean-François, »und du tust gut daran, ihr nichts zu verraten!«
    »Sonst?« Isabelle goss sich ein weiteres Glas ein. Ihre Hände zitterten. »Willst du mir etwa drohen?« Sie lachte.
    »Meinst du denn, es gäbe noch eine Gemeinheit, die mir einer meiner Kunden noch nicht hätte angedeihen lassen? Denkst du, die Narben an meinem Bauch und am Rücken kommen vom vielen Beten in der Kirche?«
    »Nein.« Er starrte sie an, als erwache er aus einem bösen Traum. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihm breit. Er mochte diese Hure, mehr als die anderen. Und er bedauerte sie zutiefst. In wenigen Jahren würde sie verblüht sein. Krank und versoffen würde sie in der Gosse enden, ihren welken, schmutzigen Körper für ein paar Brotkrumen oder ein Glas des von ihr seit Neuestem so sehr geliebten Absinth anbieten.
    Aber auch er verlor gegen die unbarmherzige Zeit immer mehr an Boden. Ruhelos trieb er dahin, ohne seine wahre Lebensaufgabe zu finden, ohne ein Ziel auszumachen.
    »Es tut mir Leid, Isabelle.« Er legte sich zu ihr und starrte hoch an die schrägen Dachbalken, in deren Schatten sich Heere an Spinnen tummelten. »Ich… ich mag dich. Wirklich.«
    »Das ist das schönste Kompliment, das ich jemals aus deinem Mund gehört habe«, sagte sie spöttisch. Isabelle kicherte, warf sich auf ihn, küsste seinen Hals, liebkoste seinen Körper. Als ihre Hände erneut auf Wanderschaft gingen, ließ er es geschehen. Sie war in der Tat eine ausgezeichnete Liebhaberin.
    Die große Glocke von Saint Julien läutete.
    »Seltsam«, murmelte Isabelle zwischen zwei leidenschaftlichen Küssen, »die Mittagszeit ist längst vorüber, und der Ruf zum Abendgebet sollte noch eine Weile auf sich warten lassen.«
    Die große Glocke von Saint-Leu-Saint-Gilles, im Volksmund ironisch »La Petite« genannt, fiel ein. Und dann kam klang das dumpfe Geläut von Notre Dames Glockenwerk von der Île herüber.
    »Es ist jemand gestorben«, sagte Jean-François.
    »Der König ist tot!«, gellte von der Straße der Ruf hoch. Er wurde aufgenommen, weitergegeben, um weitere Stimmen vermehrt. Wie ein Rauschen, das einen mächtigen Sturm ankündete, verbreitete sich die Nachricht von Haus zu Haus, von Gasse zu Gasse, von Viertel zu Viertel.
    »Der König ist tot«, wiederholte Isabelle ohne besonderes Interesse.
    »Es lebe der König«, erwiderte Jean-François, um in Gedanken hinzuzufügen: und seine Königin, die wunderbare Marie-Antoinette.
    ***
    In Paris änderte sich kaum etwas. Louis XVI. war trotz all der Vorbereitungsjahre zu jung, um sich gleich in Szene zu setzen. Es gab die üblichen Trauerfeiern, Betstunden, Inthronisierungsfeierlichkeiten und Amnestien für manche Strafgefangene. Auf die Forschungstätigkeiten im Quartier Latin am anderen Ufer der Seine und in den großen wissenschaftlichen Einrichtungen hatte der Regierungswechsel keinerlei Einfluss.
    Dennoch lag eine seltsame Stimmung in der Luft. Als wüssten die Menschen, dass etwas Großes bevorstand, ohne es greifen zu können. Als fühlte man, dass die Angehörigen des Ersten und Zweiten Standes, der Adel und der Klerus, ihre Pfründe nicht mehr allzu lange würden verteidigen können. Jean-François ahnte, dass sie am Vorabend großer Umwälzungen standen – und ihm, dem Zwanzigjährigen, lief die Zeit davon.
    4. 1775 -1781: Erste Erfolge
    Forschungen. Über Jahre hinweg. Vergeudet. Verzweifelte Suche.
    Kein Sinn, kein Sinn…
    Er brüllte auf, erwachte durch den eigenen Schrei, schreckte aus dem Bett hoch. Er tastete nach dem Stichmesser, das er stets in seiner Nähe behielt, hieb damit Löcher in die Dunkelheit. Orientierungslos, panisch.
    Nur allmählich kam er zu Sinnen, fand zurück in die trügerische Sicherheit seines erbärmlichen Lebens.
    Es klopfte. »Ist alles in Ordnung, Monsieur de Rozier?«, hörte er die besorgte Stimme von Madame Hinault.
    »Alles bestens!«, antwortete er, ein allzu heftiges Keuchen unterdrückend. »Ich hatte bloß einen Albtraum.«
    Die fette Wirtin seufzte hörbar auf. »Seit ihrer Rückkehr aus Reims träumen sie zu oft und zu schlecht«, sagte sie durch die geschlossene Tür. »Sie
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