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214 - Der Mann aus der Vergangenheit

214 - Der Mann aus der Vergangenheit

Titel: 214 - Der Mann aus der Vergangenheit
Autoren: Michael M. Thurner
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Kollegen ausgetauscht oder gemeinsam mit ihnen an einer allumfassenden Formel gearbeitet, um sie anschließend von Praktikern umsetzen zu lassen, würde man dem Ziel, der Schaffung künstlichen Lichts, wesentlich rascher näher kommen.
    Fast niemand bewahrte sich den Blick für die großen Ideen. De Balzac kümmerte sich um die Phosphate, in dem Irrglauben, Gold erzeugen zu können. Jean-Charles de Borda, gleichermaßen genial als Mathematiker und Heerführer, beschäftigte sich mit der Gradmessung und mit statistischen Wahlverfahren. Charles Messier beschäftigte sich ausschließlich mit Himmelskörpern und verwaltete sie wie ein Buchhalter in dem nach ihm benannten Katalog. Étienn-Louis Boulée widmete sich hauptsächlich der Architektur. Lediglich seine atemberaubenden Entwürfe, Zeichnungen und Skizzen enthüllten, welches Genius tatsächlich in ihm ruhte…
    Es gab so viele von ihnen, und doch bewässerten sie immer nur schmale Streifen auf den Feldern des Wissens.
    Ein Gigant überstrahlte sie alle. Ein einziger. Voltaire, auf seine alten Tage zum Patriarchen von Ferney gewandelt, warf seinen Schatten weit über all diese kleingeistigen Zwerge. Er hielt auf seinem Landgut nahe der Stadt Genf Hof. Er empfing Fürsten, Könige und Kaiser. Er lehrte, belehrte und beleidigte sie. Jeden Monat erschienen Schriften von ihm und wurden in einschlägigen Magazinen veröffentlicht.
    Er schrieb Dramen, Epen, Novellen, Aphorismen. Er zeigte den staunenden Lesern, wie man Vergangenes und Zeitgeschichte in Stichwortform erfasste und die Leistungen der Altvorderen möglichst objektiv in Worte fasste. Er lehrte die Franzosen, von der willkürlichen Groß- und Kleinschreibung Abstand zu nehmen und vereinheitlichte die Schreibstandards. Er trat mit aller Leidenschaft für das ein, was er zu Papier brachte: Er forderte die Gleichberechtigung, selbst für die Frau, er schrie nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, er wünschte sich den Ausgleich zwischen den Religionslehren herbei und suchte nach Toleranz. Voltaire erfand das nach Stichworten geordnete Lexikon. Er verurteilte den von Rom aus gelenkten Katholizismus, der die Pfaffen reich und jene, die sie eigentlich durch die säkulare Welt begleiten sollten, arm machte. Und nicht zuletzt zeigte er auf seinem Landgütern in Ferney und Tourney, wie man in der Praxis mit Pächtern und Landarbeitern auch umgehen konnte. Die Äcker brachten mehr Profit als alle anderen ringsum, und mit zusätzlicher Heimarbeit für die langen Wintermonate bescherte er seinen Arbeitern ein respektables Einkommen. Eines Tages, so sagte sich Jean-François, würde er das Pendant zu Voltaire auf dem Gebiet der Naturwissenschaften sein.
    ***
    Er hatte seinen Namen während des ersten Zusammentreffens mit Justin de Balzac bewusst abgeändert. Jene paar Buchstaben, die aus einem
    Pilastre
    einen
    Pilâtre
    und aus einem
    de Rosier
    einen
    de Rozier
    machten, markierten für ihn eine Wende.
    Er liebte und achtete den Herrn Papa, und er war stolz auf den alten Herrn, der mit aller Verve gegen die Unbilden des Lebens anstrampelte. Doch Erfindungen und Patente, um die seine Gedanken kreisten, würden seinen eigenen Namen tragen.
    Er verließ die Pension. Madame Hinault warf ihm einen missbilligenden Blick zu. Sie würde die Kosten für sein Zimmer wohl bald erneut erhöhen. Seitdem er mit Magdeleine verkehrte, verzichtete er gut und gerne auf die dienstagabendlichen Pflichttermine in ihrem Bett, und die Wirtin trug dem Rechnung, indem sie mehr Geld von ihm verlangte.
    Die Straße war überfüllt wie immer. Das Geschrei und Geschubse fand während der Tagesstunden kaum ein Ende. Es stank und es staubte. Wenn es regnete, verwandelten sich die Wege in schlammige Strecken, die man knietief durchwaten musste. Besonders gefährlich waren für den Fußgänger die frühen Morgen- und die späten Abendstunden. Dann gossen die Weibersleute ihre Abfälle und die Inhalte der familiären Leibschüsseln hinab auf die Gassen, ohne sich auch nur einen Dunst um andere Menschen zu scheren. Ratten sonder Zahl bevölkerten dann die dunklen Wege und stritten sich mit streunenden Hunden um Knochen oder Fettbatzen. Sie alle wurden satt in dieser reichen Gegend. Danach kümmerten sich Schwärme dicker glänzender Fliegen um den Rest.
    Jean-François erreichte die Ponte au Change. Die Geldwechsler und Goldschmiede, von Louis XIV. hier per Dekret angesiedelt, hatten der Brücke ihren Namen gegeben. Er betrat die dicken alten Holzbohlen,
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