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214 - Der Mann aus der Vergangenheit

214 - Der Mann aus der Vergangenheit

Titel: 214 - Der Mann aus der Vergangenheit
Autoren: Michael M. Thurner
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genoss sie. Sie machte ihm keine Angst, ihm nicht. Er war jung, sein Kopf voll guter Ideen, seine Arme waren kräftig, und er war als Eroberer hierher gekommen. Als Visionär und Revolutionär.
    Sein Wanderranzen war voll gestopft mit Plänen und Skizzen. Er benötigte eine einzige Chance. An einer der großen Stätten des Wissens. An der Sorbonne oder an der Akademie der Wissenschaften, im Collège Louis-le-Grand oder im Collège d’Harcourt. Mit ein wenig Glück würden ihm die Empfehlungsschreiben des Herrn Papa die richtigen Tore öffnen.
    Er musste seine spitze Zunge und sein Temperament im Zaum halten, wollte er sich hoch dienern, an die Säckel der reichen Herrschaften gelangen; doch das würde ihm zweifelsohne gelingen. Schließlich hatte er ein Ziel vor Augen, und nichts würde ihn davon abhalten, es zu erreichen.
    Er fand eine günstige und leidlich saubere Pension nahe der Ponte au Change, einer der mit Wohnhäusern und Geschäften zugepflasterten Brücken, die zur Île de la Cité führten.
    Madame Hinault, fett und stets mit einer Flasche Roten in Griffweite, schloss ihn in ihr großes Herz. Für ein paar Sous und einer geringen Portion Liebesdienste – Augen zu und durch!, sagte er sich von da an jeden Dienstagabend – erhielt er eine weitgehend wanzenfreie Dachkammer, in der er tun und lassen konnte, was er wollte. Von der Dachluke der Maisonnette blickte er hinab auf das Durcheinander der Händler, Bettler, Austräger, Diener in Livrés, Köchinnen, Waschweiber, Tagediebe, Studenten, Totengräber, Tuchhändler und Huren.
    Ab und zu sah er einen Dreispitzträger, der sich gestelzten Schrittes durch die Menschenmassen bewegte.
    Diese Männer, Professoren und Forscher der Universitäten, stachen hervor, als stammten sie vom Mond. Sie waren in ihren Gedankenwelten verhangen. In den revolutionären Schriften und Erkenntnissen, die dieses aufregende Zeitalter mit sich brachte. Sie grübelten und sinnierten über Maupertuis und le Rond d’Alembert, über Diderot und Voltaire, über Kant und Watt. In ihren Köpfen wuchs Großes heran. Sie waren die Zukunftsträger Frankreichs. Sie entwickelten Ideen weiter, die aus England oder Deutschland hierher gelangt waren, oder schufen vollkommen Neues.
    In nicht allzu ferner Zukunft würde er zu ihnen gehören.
    Jean-François grinste. Ein grobschlächtiger Bursche mit der Fingerfertigkeit eines besoffenen Holzfällers schnitt einem der Professoren die Geldkatze vom Gürtel. Der bemerkte es nicht, blickte bloß mit großen Augen um sich, um festzustellen, dass er sich auf der Straße befand und nicht in seinen Studierräumen. Er kratzte sich unter seiner Perücke und marschierte weiter, während Freund Holzfäller durch eine der schmalen dunklen Nebengassen davonlief. Er würde sich und seinen Saufkumpanen heute wohl den Rausch seines Lebens gönnen.
    Jean-François revidierte sein Urteil. Er war nicht wie dieser weltfremde, überlebensunfähige Mann des Wissens.
    Er würde zu ihnen gehören – und dennoch mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen.
    Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Noch bevor die Furcht hochstieg und er sich selbst daran hindern konnte, lief er auch schon davon, seinem Plan hinterher.
    ***
    Der flüchtende Bursche mit den Holzfällerpratzen blickte sich kein einziges Mal um. Er schritt rasch aus, grüßte da- und dorthin, pfiff eine kleine Melodie. Er kannte sich gut aus hier. Er bog in die Rue de la Lingerie ein; einen holprigen, bergab führenden Weg, dem die Kutscher tunlichst auswichen, wenn sie konnten. Aus dem nahe gelegenen Cimetière des Innocents, dem Friedhof der Unschuldigen, drang der übliche Leichengeruch herüber und vermischte sich mit dem Gestank des Fischmarktes, der in Les Halles untergebracht war.
    Jean-François blieb stets im Schatten der Häuser. Er beobachtete seinen Gegner, beurteilte sein Verhalten, suchte nach möglichen Schwächen. Er war ein Linkshänder. Unter seinem armseligen Rock verbarg sich eine Schlagwaffe; der Griff beulte den Stoff des Kleidungsstücks aus.
    Er ist hier im Vorteil, dachte sich Jean-François. Er kennt die Gegend, und die Leute kennen ihn. Ich muss ihn überrumpeln und mir sofort Respekt verschaffen. Unter keinen Umständen darf ich Schwäche zeigen; sonst kommen ihm seine Kumpels zu Hilfe und stürzen sich gemeinsam auf mich.
    Die Rue de l’Auvergne. Berüchtigt für die Kaschemmen, in denen man alles und jeden kaufen konnte.
    Er musste jetzt handeln, bevor der kleine Gauner in einer
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