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214 - Der Mann aus der Vergangenheit

214 - Der Mann aus der Vergangenheit

Titel: 214 - Der Mann aus der Vergangenheit
Autoren: Michael M. Thurner
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Anstrengungen mit den drei jüngeren Bälgern fraßen sie auf. Sie war kaum über vierzig, und doch wirkte sie wie eine alte Frau. Ihr Gedächtnis ließ nach; sie erinnerte sich kaum noch an Dinge, die einen Tag zuvor geschehen waren.
    »Ich werde Euch schreiben, maman, und werde Euch mitteilen, ob die Hammeln in Paris fliegen«, sagte er zu ihr.
    Sie lächelte. Verhangen in einer ihrer wenigen Erinnerungen, an die sich ihr erlöschender Geist klammerte. »Bring mir einen Sack Mehl, Petitjoli, wenn du bei Archète vorbeikommst.«
    Er strich ihr eine silberne Haarsträhne aus dem Gesicht.
    »Sicherlich, maman, sicherlich.«
    ***
    Petitjoli hatte sie ihn stets genannt.
    Der hübsche Kleine, liebevoll verballhornt zu einem Spitznamen, der so ganz und gar nicht zu seinem Äußeren passen wollte.
    Ja, er war gerade gewachsen, und er hatte noch fast alle Zähne im Mund. Auch die Pockenplage war an ihm vorüber gegangen. Doch die Nase, diese schrecklich spitze, mehrmals gebrochene Nase… Sie beherrschte sein Gesicht, sie überstrahlte alles Sonstige, das ihn hätte attraktiv erscheinen lassen.
    Gut – die Damen in den Etablissements der Rue du Sauvignon hatten bei seinen spärlichen Besuchen nicht weiter darauf geachtet. Sie waren weitaus Schlimmeres gewohnt, und sie hatten selbst mit Pockennarben, Mundfäule, Schwindsucht und mit Blutstürzen zu kämpfen.
    Aber die Demoiselles der feineren und feinsten Gesellschaft scherten sich kaum um ihn. Sie fanden ihn amüsant, und sie ließen ihn manche seiner magisch anmutenden Kunststücke vorführen, die er mit Hilfe der Chemie beherrschte. Darüber hinaus hatten sie jedoch keinerlei Interesse an Jean-François Pilastre de Rosier.
    Er lachte. Was kümmerte es ihn? Liebe konnte man sich kaufen. Und eines Tages würde er reich genug sein, um sich die schönsten Frauen des Landes leisten zu können. Er würde so viele haben, wie er wollte.
    Dreihundert oder mehr.
    »Ihr seid gut gelaunt, Monsieur?«, fragte der Abbé Renauld.
    »Sollte ich denn nicht? Es ist ein schöner Tag, und wir nähern uns bereits Paris.«
    »Dank Gott dem Allmächtigen ist die Reise friedlich und ereignislos verlaufen.«
    »Ich denke, dass eher das verstärkte Aufkommen und verbesserter Straßenschutz durch die Landser unseres Königs damit zu tun haben.«
    »Louis der Sechzehnte mag unser König auf Erden sein, aber auch er ist dem König des Himmelreichs Untertan.« Abbé Renauld deutete vorwurfsvoll mit dem Finger auf ihn. »Eure Gedanken, an denen ihr mich während der Reise zur Genüge Anteil nehmen ließet, sind nicht nur revolutionär, sondern manchmal auch ein wenig blasphemisch. Ich würde Euch raten, in Paris Eure Ideen nicht allzu laut zu vertreten.«
    »Verzeiht mir, Abbé.« Feister, verlogener Pfaffe, du!
    Des Nachts legst du Hand an dich selbst, redest im Schlaf und träumst von den Knaben, die du hinter den Mauern des Jakobinerklosters verführen wirst. Und du willst mir von Blasphemie erzählen? »Manchmal ist mein Mundwerk schneller als mein Kopf; die Worte sind mir im jugendlichen Überschwang herausgerutscht.«
    »Ist schon gut, Jean-François.« Abbé Renauld streichelte über sein Bäuchlein. »Dort vorne scheint mir ein gastfreundlicher Hof zu sein. Ich denke, dass ich den Spesenbrief meines Klosters noch für den einen oder anderen Humpen Bier strapazieren kann. Ich lade dich gerne ein, junger Freund.«
    »Ihr seid zu gütig, Herr. Wie kann ich Euch jemals danken?« Die Ratschläge seines Vaters machten sich bereits bezahlt.
    »Reise, wenn möglich, in Begleitung eines Pfaffen«, hatte der ihm eingetrichtert. »Aber meide die Franziskaner. Sie sind die Einzigen, die ihrem Berufsstand Ehre machen und mit dem Volk hungern. Halte dich stets an jene mit den dicken Bäuchen und den roten Wangen.«
    3. 1772 – 1774: Paris zu erobern
    Dies hier war der Nabel der Welt. Die größte, vornehmste, prächtigste, verwahrloseste, stinkendste Stadt, die Gott je erschaffen hatte, wahrscheinlich noch verderbter als Sodom und Gomorrha.
    Hunderttausende lebten und überlebten hier. Einige Wenige, die Angehörigen des Hohen Adels und des Finanzadels, schwelgten in bizarrem Reichtum und gaben sich den sündigsten Vergnügungen hin. Die Mehrzahl der Einwohner hingegen strampelten sich Tag für Tag ab, um nicht unterzugehen und ihre Familien irgendwie durchzubringen. Eine schmale Mittelschicht, das Bürgertum, trat nach unten und buckelte nach oben.
    Jean-François sog die Stimmung auf. Er liebte und
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