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214 - Der Mann aus der Vergangenheit

214 - Der Mann aus der Vergangenheit

Titel: 214 - Der Mann aus der Vergangenheit
Autoren: Michael M. Thurner
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die über die sieben steinernen Pfeiler gelegt worden waren. Links und rechts von ihm ragten drei- oder vierstöckige Häuser hoch. Die Zeilen erstreckten sich über die gesamte Länge der Brücke. Hunderte Menschen waren auf der Ponte au Change beheimatet. Man munkelte, dass manche von ihnen diesen kleinen Fleck noch niemals verlassen hätten.
    Sie arbeiteten und aßen hier, heirateten, zeugten Kinder und verrichteten ihre Notdurft in die Seine. Und wenn sie starben, wurden ihre Leichname still und heimlich auf demselben Weg entsorgt.
    Jean-François nahm das Geschehen mit all seinen Sinnen auf. Es interessierte ihn am Rande. Die Menschen strömten beständig ineinander, verteilten sich auf die Geschäfte, marschierten weiter. Niemand kam zu Schaden, niemand wurde an den Rand gedrückt, jedermann fand in dem scheinbaren Durcheinander seinen Platz. Wie Ameisen waren sie. Ameisen, die ganz genau wussten, was sie wo zu tun hatten.
    Links von ihm lag das verlassene Geschäft des Giuseppe Baldini. Verwitternde Hölzer waren über die einstmals von der Damenwelt bewunderte Auslageflächen genagelt worden.
    Baldini – der Parfumkünstler. Der Mann, der Frauen mit seinen Düften verzückte, und der vor gerade mal zwanzig Jahren in seinem Gehilfen Jean-Baptiste Grenouille für wenige Monate einen kongenialen Partner gefunden hatte. Damals waren die Mitglieder der Pariser Haute Volée hier auf- und abmarschiert und hatten sich verzaubern lassen.
    Baldini war tot, Grenouille verschwunden. Niemand hatte sich gefunden, um das schwere Erbe zu übernehmen.
    Die Île de la Cité war erreicht. Links von Jean-François erstreckte sich entlang des schmutziggrauen Wassers der Seine die Conciergerie. Hinter den hohen steinernen Mauern saßen Gefangene und warteten auf ihre Verurteilung. Manchen von ihnen drohte die Guillotine, andere würden mehrere Jahre hier einsitzen.
    Von allen Teilen der sich wie eine Krake ausbreitenden Stadt kamen die Menschen zur Insel geeilt. Sie zogen über eine von vier Brücken. Die fünfte war für die Droschke des Königs reserviert, der heute höchstpersönlich die Fortschritte an den Kuppelbauten des Pantheons bewundern wollte.
    Die Baustelle war gewaltig groß. Der Staub hatte sich für diesen einen Tag gelegt. Seit gestern waren die Arbeiten unterbrochen, um dem Bourbonen und seiner Gefolgschaft freie Sicht auf das entstehende Monument zu gewährleisten.
    Jean-François ließ sich von den Menschenmassen treiben. So lange, bis er eingekeilt war zwischen den Pariser Bürgern, nicht mehr vor und nicht mehr zurück konnte. Gut und gern zwanzigtausend Menschen versammelten sich hier, um die seltene Gelegenheit zu nutzen, den alternden Herrscher zu bewundern. Die meiste Zeit des Jahres hielt sich der Bourbone mit seiner Familie in Versailles auf und bestimmte von diesem legendenumwobenen Landgut aus das Schicksal des Frankenlandes.
    Louis XV. richtete sich in seiner Kutsche auf und winkte ins Volk. Das Volk antwortete mit Jubelgeschrei.
    Umso größer war die Begeisterung, als sich der neunzehnjährige Dauphin , der Thronfolger, blicken ließ.
    Sein Enkel, der die Königswürde übernehmen und den Titel Louis XVI. tragen würde. Der Vater und der ältere Bruder waren bereits vor Jahren gestorben. Seit fast einem Jahrzehnt bereitete man den jungen Mann auf seine Aufgabe vor. Auf Verantwortung, Dekadenz, Verpflichtungen und Intrigen des Hofes. Das Bett war für ihn gerichtet, und er würde wie gefesselt darin ruhen. Er konnte seinem Schicksal nicht entrinnen. Das einzige Ziel, das der höchste Würdenträger Frankreichs vor Augen sah, war der Tod.
    Seine junge Frau saß mit versteinertem Gesicht neben ihm. Die autrichienne. Die österreichische Hündin, wie man im Volk abfällig sagte. Marie-Antoinette, die von den Habsburgern an das französische Volk verschachert worden war, um den labilen Frieden mit Österreich abzusichern.
    Der Dauphin sprach ein paar Worte. Sie gingen im Jubel seines Volkes unter. Auch Jean-François winkte in Richtung der Kutsche, deren goldbelegte Intarsien im Sonnenlicht glänzten.
    Marie-Antoinette, die als jähzornig und wankelmütig galt, stand plötzlich auf und rückte neben ihren Ehemann.
    Es wurde ruhiger, die meisten Menschen ließen die Arme sinken. Nicht so Jean-François. Ihm gefiel die Frau, und mit einem Mal kam ihm zu Bewusstsein, wie schwer sie es hatte, hier im Land des Feindes. Irgendwie fiel es ihm ein, ihre Situation mit der seinen zu vergleichen. Beide mussten sie
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