Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
[11]  1
    Der Fehlschlag
    Ich bin dazu verdammt, mit der Erinnerung an einen Jungen
mit einer entsetzlichen Stimme zu leben – nicht wegen seiner Stimme, auch
nicht, weil er der kleinste Mensch war, der mir je begegnet ist, und nicht
einmal, weil er das Werkzeug zum Tod meiner Mutter war, sondern weil er der
Grund ist, warum ich an Gott glaube: wegen Owen Meany bin ich Christ geworden.
Ich behaupte nicht, ein Leben in Christus zu führen, oder mit Christus – und
ganz bestimmt nicht für Christus, wie es einige
Glaubenseiferer von sich behaupten. Meine Kenntnisse vom Alten Testament sind
recht oberflächlich, und die vom Neuen Testament habe ich seit meinen Tagen in
der Sonntagsschule nicht mehr aufgefrischt, abgesehen von einigen Passagen, die
ich höre, wenn ich in die Kirche gehe. Etwas vertrauter bin ich mit den
Bibelstellen, die im Gebetbuch stehen; in meinem Gebetbuch lese ich oft, in der
Bibel nur an den hohen Kirchenfeiertagen – das Gebetbuch ist viel
übersichtlicher.
    Ich bin schon immer ziemlich regelmäßig zur Kirche gegangen. Früher
war ich bei den Kongregationalisten – ich wurde in der kongregationalistischen
Kirche getauft, und nach einigen Jahren der Verbrüderung mit der
Episkopalkirche (ich wurde dort konfirmiert) wurde meine religiöse Gesinnung
ziemlich vage; als Jugendlicher ging ich in eine »konfessionsfreie« Kirche.
Dann wurde ich Anglikaner; die anglikanische Kirche von Kanada ist meine
Kirche, seit ich die Vereinigten Staaten verließ, vor etwa zwanzig Jahren. Die
Unterschiede zwischen der anglikanischen Kirche und der Episkopalkirche sind
nicht sehr groß – so gering, daß mich manchmal der Verdacht beschleicht,
einfach wieder zur Episkopalkirche zurückgekehrt zu sein. Jedenfalls verließ
ich die [12]  Kongregationalisten und die
Episkopalkirche, und auch mein Land – für immer.
    Wenn ich sterbe, möchte ich in New Hampshire begraben werden, neben
meiner Mutter, doch die anglikanische Kirche wird die notwendige Zeremonie
abhalten, ehe mein Leichnam die unwürdige Prozedur
über sich ergehen lassen muß, durch den amerikanischen Zoll geschleust zu
werden. Was ich für mich in der Beerdigungsliturgie ausgesucht habe, ist ganz
und gar üblich und steht im Gebetbuch – mit dem Unterschied, daß es gelesen und nicht gesungen werden wird. Fast alle meine
Bekannten kennen die Passage bei Johannes, die so anfängt: »…und wer da lebt
und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.« Dann kommt die Stelle: »…In
meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Wenn’s nicht so wäre, hätte ich es
euch gesagt.« Und besonders gefallen hat mir schon immer die Offenheit bei
Timotheus, wo es heißt: »Denn wir haben nichts in die Welt gebracht; darum
werden wir auch nichts hinausbringen.« Es wird ein hundertprozentig
anglikanischer Gottesdienst werden, dergestalt, daß meine früheren
Mitkongregationalisten in den Kirchenbänken zappeln würden. Ich bin jetzt
Anglikaner, und ich werde auch als Anglikaner sterben. Doch ab und zu lasse ich
einen Sonntagsgottesdienst ausfallen; ich behaupte nicht, besonders fromm zu
sein; meine Beziehung zur Kirche ist eher lau und muß jeden Sonntag wieder
aufgewärmt werden. Was ich an Glauben habe, verdanke ich Owen Meany, einem
Jungen, mit dem ich zusammen aufwuchs. Owen war es, der mich zum Gläubigen
machte.
    In der Sonntagsschule entwickelten wir eine Art Spiel, für das
wir Owen Meany mißbrauchten, der so klein war, daß
seine Füße nicht nur nicht den Boden berührten, wenn er auf dem Stuhl saß,
sondern daß seine Knie nicht einmal bis zur Kante des Stuhles reichten und die
Beine gerade vorstanden wie bei einer Puppe. Es sah aus, als sei Owen Meany
ohne Gelenke geboren.
    [13]  Owen war so winzig, daß es uns
ungeheuer Spaß machte, ihn hochzuheben; wir konnten es einfach nicht lassen.
Wir hielten es für ein Wunder: Wie leicht er doch war. Und eigentlich paßte es
gar nicht zu ihm, denn Owen kam aus einer Familie, die im Granitgeschäft tätig
war. Der Granitsteinbruch der Meanys war riesig; die Werkzeuge zum Sprengen und
Schneiden der Granitplatten waren schwer und wirkten gefährlich; und Granit ist
ein so rauhes, solides Gestein. Doch der einzige Hauch von Granit, der Owen
umgab, war der körnige Staub, dieses graue Puder, das aus seinen Kleidern fiel,
wenn wir ihn hochhoben. Sein Teint hatte die Farbe eines Grabsteins; das Licht
wurde von seiner Haut gleichzeitig absorbiert und reflektiert, wie bei einer
Perle, so daß er manchmal geradezu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher