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20.000 Meilen unter den Meeren

20.000 Meilen unter den Meeren

Titel: 20.000 Meilen unter den Meeren
Autoren: Jules Verne
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darüber, dass man »so einfältig gewesen war sich von einer Chimäre narren zu lassen«. Nach der Aufmerksamkeitswelle setzte bei der Mannschaft jetzt eine demonstrative Fress- und Schlafwelle ein.
    Am 2. November forderte eine Abordnung von Kommandant Farragut, er solle umkehren. Farragut sah ein, dass ihm angesichts der Erfolglosigkeit ihrer Fahrt nichts anderes übrig blieb, doch erbat er sich wie Kolumbus noch drei Tage. Hatte sich danach das Tier nicht gezeigt, wollte er europäische Meere ansteuern.
    Dieses Versprechen besserte die Laune und die Männer gaben sich alle Mühe, die Aufmerksamkeit des Tieres zu erregen. Die Fregatte lag unter nur schwachem Dampf, Boote kreuzten um sie, ungeheure Speckstücke wurden zu Wasser gelassen, zogen allerdings nur Haie an.
    Am 5.11. lief der Termin ab. Wir befanden uns damals unter 31° 15’ nördl. Breite und 136° 42’ östl. Länge. Japan lag kaum 300 sm unterm Wind entfernt. Um 20 Uhr abends war der Mond im ersten Viertel von Gewölk verschleiert, das Meer schlug ruhig an die Spanten. Es war sozusagen der letzte Augenblick, alle Mann befanden sich an Deck und spähten in die Nacht. Conseil, Ned Land und ich beobachteten nach Steuerbord. Conseil hielt mir eine lange Rede über die Unsinnigkeit unseres Tuns, mit der ich sechs Monate meines kostbaren Forscherlebens vergeudet hatte, als Ned Land mit fester Stimme rief : »Das gesuchte Ding ahoi! Querab von uns unter Wind.«
    Auf diesen Ruf stürzte alles nach Steuerbord und da sah man, dass sich die trefflichen Augen des Kanadiers trotz der Dunkelheit nicht getäuscht hatten. Zwei Kabellängen von der Fregatte entfernt schien das Meer von innen heraus erleuchtet. Das war kein bloßes Phosphoreszieren, sondern das Ungeheuer unter der Oberfläche warf einen starken Glanz, von dem auch mehrere Kapitäne berichtet hatten, der aber ganz unerklärlich war. Wir sahen jetzt alle das erleuchtete Oval mit seinem glühenden Zentrum und den stufenweise schwächer werdenden Strahlenringen.
    »Phosphoreszierende Einzeller!«, meinte einer der Offiziere.
    »Durchaus nicht, Monsieur!«, antwortete ich bestimmt. »Seetönnchen oder Salpen können niemals ein derart starkes Licht erzeugen. Das dort … das ist elektrisch!«
    Da begann sich die Lichterscheinung auch schon zu bewegen und kam auf uns zu. Farragut ließ sofort die Maschinen rückwärts laufen, der Dampf wurde gehemmt und die Abraham Lincoln beschrieb einen Halbkreis nach links.
    »Steuer hart steuerbord! Volle Kraft voraus!«
    Und die Fregatte entfernte sich rasch von der leuchtenden Stelle. Aber das Untier verfolgte sie, der Abstand verringerte sich rasch wieder, das Tier bewegte sich doppelt so schnell wie wir! Bestürzung und Furcht lähmten uns, denn das Tier beherrschte uns spielend. Es umzog die Fregatte in weiten leuchtenden Kreisen, entfernte sich, nahm Anlauf direkt auf uns zu, tauchte unterm Kiel weg, verlosch, war wieder da und konnte jeden Augenblick mit uns zusammenstoßen. Statt anzugreifen, floh die Abraham Lincoln, statt zu verfolgen, wurde sie verfolgt.
    Farragut zeigte ein unbeschreiblich bestürztes Gesicht, als ich ihn aufsuchte. Er wollte während der Nacht nicht zum Angriff übergehen, da man nicht wissen konnte, mit was für einem Ungeheuer man es hier zu tun bekam. »Ich kann meine Fregatte nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen, Monsieur Aronnax!«, sagte er. »Warten Sie den Tag ab, dann sollen die Rollen schon wechseln.«
    »Vielleicht darf man dem Tier ebenso wenig nahe kommen wie einem Zitterrochen.«
    Farragut erbleichte. »Es ist das fürchterlichste Geschöpf aus Gottes Hand«, sagte er. »Ich habe allen Grund, vorsichtig zu sein.«
    Da die Fregatte nicht fliehen konnte, hielt sie sich unter schwachem Dampf die Nacht lang am gleichen Ort und auch der »Narwal« ließ sich von den Wellen schaukeln. Um Mitternacht verlosch er, eine Stunde später jedoch wurde ein starkes Zischen hörbar, das Ned Land als typisches Walzischen – wenngleich 100-mal verstärkt – identifizierte.
    »Mit Verlaub, Kommandant«, sagte der Kanadier, »morgen bei Tagesanbruch möchte ich zwei Worte mit ihm reden.«
    »Wenn es Ihnen eine Audienz gewährt.«
    »Ich brauche ihm nur auf vier Harpunenlängen nahe zu kommen, dann wird es mich schon anhören müssen.«
    »Dazu wollen Sie wahrscheinlich ein Fangboot von mir haben?«
    »Genau.«
    »Ich soll das Leben meiner Leute aufs Spiel setzen?«
    »Wie ich das meine.«
    Während der Nacht wurden die Kanonen vorbereitet.
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