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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3
Autoren: Haruki Murakami
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sind gleich da«, rief sie Tengo ins Ohr. Sie musste fast schreien, um den Lärm der Autos und das Heulen des Windes zu übertönen. »Die Treppe hoch, und sind wir auf der Stadtautobahn.«
    Wenn sie nicht versperrt ist, dachte sie, aber sie sagte es nicht.
    »Du hattest von Anfang an vor, diese Treppe hinaufzusteigen, oder?«, fragte Tengo.
    »Ja. Das heißt, falls ich sie finden würde.«
    »Aber warum hast du dich ausgerechnet so angezogen? Ein enger Rock und hohe Schuhe sind nicht ideal für einen so steilen Aufstieg.«
    Aomame lächelte. »Ich muss diese Sachen tragen. Irgendwann erkläre ich dir, warum.«
    »Du hast unheimlich schöne Beine«, sagte Tengo.
    »Gefallen sie dir?«
    »Sehr.«
    »Danke«, sagte Aomame. Sie beugte sich auf dem schmalen Steg nach vorn und legte die Lippen sacht an Tengos Ohr. An sein zerdrücktes Blumenkohlohr. Es war eiskalt.
    Auch als sie den Steg überquerten, ging Aomame voran. An seinem Ende angekommen, stieg sie die steile, schmale Treppe hinauf. Ihre Fußsohlen waren eisig und ihre Finger fast abgestorben. Sie musste aufpassen, dass sie nicht danebentrat. Ihr vom Wind zerzaustes Haar aus dem Gesicht streichend, kletterte sie weiter. Der schneidende Wind trieb ihr die Tränen in die Augen. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, hielt sie sich am Geländer fest. Während sie behutsam einen Fuß vor den anderen setzte, dachte sie daran, dass Tengo hinter ihr war. Dachte an seine großen warmen Hände und seine kalten Blumenkohlohren. An das Kleine in ihrem Bauch. An die schwarze Halbautomatik in ihrer Umhängetasche. Und an die sieben Neun-Millimeter-Patronen, mit denen sie geladen war.
    Sie mussten, koste es, was es wolle, aus dieser Welt entkommen. Dazu musste sie aus tiefstem Herzen glauben, dass die Treppe auf die Stadtautobahn führte. Ich muss fest daran glauben, ermahnte sich Aomame unablässig selbst. Ihr fiel etwas ein, das der Leader an jenem Unwetterabend kurz vor seinem Tod gesagt hatte. Es war der Text eines Schlagers. Sie erinnerte sich noch genau.
     
    It’s a Barnum and Bailey world
    Just as phony as it can be
    But it wouldn’t be make-believe
    If you believed in me
     
    Doch wenn du an mich glaubst, wird alles wahr …
    Was auch geschieht, ich muss es wahr werden lassen. Nein, wir beide, Tengo und ich müssen mit vereinten Kräften dafür sorgen, dass es wahr wird. Wir müssen unsere Kräfte bündeln. Für uns beide und für das Kleine .
    Als sie an einen ebenen Treppenabsatz gelangten, blieb Aomame stehen und wandte sich um. Tengo war unmittelbar hinter ihr. Sie streckte die Hand aus, und Tengo ergriff sie. Seine Hand fühlte sich genauso warm an wie zuvor. Sie gab Aomame Kraft und Sicherheit. Abermals streckte sie sich und brachte den Mund an sein verformtes Ohr.
    »Weißt du, einmal hätte ich fast mein Leben für dich gegeben«, vertraute sie ihm an. »Viel hat nicht mehr gefehlt, und ich wäre tot gewesen. Nur ein paar Millimeter. Glaubst du mir das?«
    »Natürlich«, sagte Tengo.
    »Sag, dass du es von ganzem Herzen glaubst.«
    »Ich glaube es von ganzem Herzen.«
    Aomame nickte und ließ seine Hand los. Sie wandte sie nach vorn und begann wieder, die Treppe hinaufzusteigen.
     
    Wenige Minuten später gelangte Aomame ans Ende der Treppe und trat auf die Stadtautobahn Nr. 3 hinaus. Die Treppe war nirgendwo blockiert gewesen. Ihre Ahnung hatte sie nicht getrogen, ihre Bemühungen wurden belohnt. Bevor sie über das Metallgitter stieg, wischte sie sich mit dem Handrücken die kalten Tränen aus den Augen.
    »Die Autobahn Nr. 3«, sagte Tengo beeindruckt, nachdem er sich einen Moment wortlos umgeschaut hatte. »Hier ist der Ausgang, oder?«
    »Ja«, sagte Aomame. »Der Eingang und der Ausgang.«
    Aomame schob sich den engen Rock bis zur Hüfte hoch, und Tengo umfasste sie von hinten, um ihr zu helfen, über das Gitter zu steigen. Auf der anderen Seite war ein Parkstreifen, der gerade genug Platz für zwei Wagen bot. Das dritte Mal war sie nun hier. Vor ihnen ragte die bekannte Werbetafel von Esso auf. Pack den Tiger in den Tank. Derselbe Slogan, derselbe Tiger. Aomame stand wortlos und ohne Schuhe da. Dann sog sie die abgasgeschwängerte Nachtluft tief ein. Sie erschien ihr frischer als jede andere Luft. Ich bin wieder zurück, dachte Aomame. Wir sind wieder zurück.
    Genau wie damals gab es einen Stau. Die endlose Schlange der Wagen bewegte sich kaum vom Fleck. Aomame sah es mit Erstaunen. Sooft sie hierherkam, gab es einen Stau. Doch für einen
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