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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3
Autoren: Haruki Murakami
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Oberschenkel hochgerutscht. Der Wind zauste ihr Haar und peitschte es ihr in die Augen. Er nahm ihr die Sicht und ab und zu sogar den Atem. Sie bereute, sich das Haar nicht nach hinten gebunden zu haben. Und warum hatte sie keine Handschuhe mitgenommen? Aber die Reue kam zu spät. Sie hatte sich eben nur darauf konzentriert, dieselben Sachen zu tragen wie damals, als sie die Treppe hinuntergestiegen war. Jetzt musste sie eben das Geländer umklammern und weitermachen.
    Während Aomame sich zitternd vor Kälte die Treppe hinaufarbeitete, schaute sie wieder auf die Balkone des vierstöckigen, mit Backstein verkleideten Wohnhauses an der großen Straße. Sie kannte es noch von ihrem Abstieg damals. Es war sehr nah, die Fenster unmittelbar vor ihr. Etwa die Hälfte davon war erleuchtet. Es hätte Schwierigkeiten geben können, wenn einer der Bewohner zufällig beobachtet hätte, dass jemand so spät am Abend die Notfalltreppe hinaufkletterte. Durch die Beleuchtung der Nationalstraße 246 waren sie sehr gut sichtbar.
    Glücklicherweise ließ sich an keinem der Fenster jemand blicken. Sämtliche Vorhänge waren dicht zugezogen. Was ja auch ganz natürlich war. Wer ging schon an einem kalten Winterabend auf den Balkon, um sich die Notfalltreppe an der Stadtautobahn anzuschauen?
    Auf einem der Balkone stand in eine Ecke gequetscht ein Gummibaum neben einem von einer Schmutzschicht überzogenen Gartenstuhl. Er war ihr schon aufgefallen, als sie im April die Treppe hinuntergestiegen war. Er sah noch schäbiger aus als der Gummibaum, den sie in ihrer Wohnung in Jiyugaoka zurückgelassen hatte. Wahrscheinlich hatte er die ganzen acht Monate am selben Platz gestanden. Man hatte ihn mit welken, fleckigen Blättern an eine unauffällige Stelle abgeschoben und vergessen. Wahrscheinlich bekam er nicht einmal genügend Wasser. Dennoch verlieh gerade dieser kleine Gummibaum Aomame Mut und Zuversicht, derweil sie unsicher und mit eisigen Händen und Füßen die wackelige Notfalltreppe erklomm. Keine Angst, ich irre mich nicht, versuchte Aomame sich zu beruhigen. Zumindest gehen wir denselben Weg, den ich gekommen bin, nur in umgekehrter Richtung. Der Gummibaum ist mein heimlicher Wegweiser.
    Damals beim Abstieg waren ihr ein paar armselige Spinnennetze aufgefallen. Und sie hatte an Tamaki Otsuka gedacht. An den Sommer in der Oberschule, an die erste Reise mit ihrer besten Freundin, daran, wie sie nackt in dem Hotelbett gelegen und einander berührt hatten. Warum hatte sie ausgerechnet daran denken müssen, als sie die Treppe hinunterstieg? Auch jetzt dachte Aomame wieder an Tamaki Otsuka. Sie erinnerte sich an Tamakis glatten, wohlgeformten Busen, um dessen Fülle sie ihre Freundin stets beneidet hatte. Wie ganz anders als ihre eigenen kümmerlichen Brüste er war. Doch Tamakis Busen gab es nun nicht mehr.
    Aomame dachte auch an Ayumi Nakano. Die einsame junge Polizistin, die in einer Nacht im August in einem Hotelzimmer in Shibuya gestorben war. Jemand hatte sie mit ihren eigenen Handschellen gefesselt und mit dem Gürtel eines Bademantels erwürgt. Ayumis psychische Probleme hatten sie an den Abgrund gedrängt. Auch sie hatte volle Brüste gehabt.
    Aomame trauerte aus tiefster Seele um ihre beiden Freundinnen. Es war so traurig, dass sie aus dieser Welt geschieden waren und mit ihnen ihre wunderschönen Brüste.
    Bitte beschützt mich, flehte Aomame. Ich brauche eure Hilfe. Bestimmt würden ihre unglücklichen Freundinnen ihre stumme Bitte hören und ihr helfen.
    Endlich oben an der Leiter angekommen, fanden sie dort einen Steg vor, der außen an der Straße entlangführte. Sein Geländer war so niedrig, dass sie gebückt gehen mussten. An seinem Ende stießen sie auf eine Treppe, die im Zickzack verlief. Auch sie war keine sehr vertrauenerweckende Konstruktion, aber immer noch besser als die Leiter. Soweit Aomame sich erinnerte, würden sie, wenn sie diese Treppe hinaufstiegen, am Pannenstreifen an der Autobahn herauskommen. Durch die Erschütterungen, die die riesigen Laster hervorriefen, geriet der Steg immer wieder ins Schwanken wie ein kleines Boot, an das seitwärts die Wellen schlugen. Der Verkehr war jetzt sehr laut zu hören.
    Aomame überzeugte sich mit einem Blick, dass Tengo direkt hinter ihr war, und griff nach seiner Hand. Sie war warm. Sie fragte sich verwundert, wie er noch immer so warme Hände haben konnte, nachdem er an einem so frostigen Abend eine Treppe mit einem eiskalten Geländer hinaufgeklettert war.
    »Wir
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