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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3
Autoren: Haruki Murakami
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Auf unsichtbare Weise. Wir beide sind eins.«
    »Ich glaube, ich habe unsere Daughter gesehen«, sagte Tengo. »Oder zumindest das, was sie darstellt. Sie hatte deine Gestalt als zehnjähriges Mädchen und schlief im Dämmerlicht einer Puppe aus Luft. Ich konnte ihre Hand berühren. Aber ich habe sie nur einmal gesehen.«
    Aomame lehnte ihren Kopf an Tengos Schulter. »Tengo, wir schulden einander überhaupt nichts. Nicht das Geringste. Unsere einzige Sorge ist es jetzt, das Kleine zu schützen. Sie sind uns dicht auf den Fersen. Ich kann ihre Schritte schon hören.«
    »Ich werde niemals zulassen, dass jemand euch etwas tut – weder dir noch dem Kleinen . Wenn wir jetzt gemeinsam fliehen, erfüllt sich, was uns auf diese gefährliche Welt gebracht hat. Aber du weißt, wo der Ausgang ist.«
    »Ich glaube es zu wissen«, sagte Aomame. »Wenn ich mich nicht irre.«

Kapitel 31
    Tengo und Aomame
    Wie eine Erbse in der Schote
    Als sie an der bekannten Stelle aus dem Taxi stiegen, blieb Aomame an der Kreuzung stehen. Sie blickte sich um und entdeckte den düsteren, von einem Metallzaun umgebenen Abstellplatz für Baumaterial unter der Stadtautobahn. Sie zog Tengo über einen Fußgängerüberweg darauf zu.
    Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, wo der Pfosten mit den losen Bolzen war, aber als sie sich geduldig Stück für Stück vortastete, fand sie doch einen Spalt, durch den ein Mensch sich hindurchzwängen konnte. Sie duckte sich und schlüpfte behutsam hindurch, damit ihre Kleidung nirgends hängenblieb. Tengo machte sich so klein, wie seine Statur es erlaubte, und folgte ihr. Innerhalb der Einfriedung sah es noch genauso aus wie damals im April: ausgeblichene Zementsäcke, rostige Eisenstangen, welkes Unkraut, verstreutes Papier und überall weißlicher Taubendreck. In acht Monaten hatte sich hier nichts verändert. Vielleicht war in der ganzen Zeit kein Mensch hier gewesen. Ein verlassener, vergessener Ort, wie eine Sandbank inmitten der Hauptverkehrsströme im Zentrum der Stadt.
    »Ist es hier?«, fragte Tengo, um sich schauend.
    Aomame nickte. »Wenn das hier nicht der Ausgang ist, sind wir gestrandet.«
    Im Halbdunkel suchte sie nach der Notfalltreppe, die sie damals hinuntergestiegen war. Die enge Treppe, die die Stadtautobahn mit der ebenen Erde verband. Sie muss hier irgendwo sein, sagte Aomame sich. Ich muss daran glauben.
    Und sie fand die Treppe. Eigentlich war es eher eine Art Leiter und viel wackeliger und gefährlicher, als Aomame sie in Erinnerung hatte. Dieses Ding bin ich von da oben heruntergeklettert, dachte sie beeindruckt. Jedenfalls ist die Treppe da, und wir brauchen sie nur Stufe für Stufe in umgekehrter Richtung hinaufzusteigen. Sie zog ihre Charles-Jourdan-Schuhe aus, verstaute sie in ihrer Schultertasche und hängte sie sich um. Dann setzte sie einen bestrumpften Fuß auf die erste Sprosse.
    »Komm mir nach«, sagte sie mit einem Blick nach hinten zu Tengo.
    »Wäre es nicht besser, ich würde vorgehen?«, fragte er besorgt.
    »Nein, ich gehe zuerst.« Sie war auf diesem Weg hinuntergekommen, also musste sie als Erste wieder hinaufsteigen.
    Die Treppe war viel kälter als beim ersten Mal. Ihre Hände, die das eisige Geländer umfassten, wurden so taub, dass sie fürchtete, sie würden absterben. Der Wind, der durch die Pfeiler der Stadtautobahn pfiff, war viel strenger und schneidender. Die Treppe wirkte abweisend und herausfordernd zugleich. Und wenig verheißungsvoll.
    Damals, als Aomame Anfang September oben auf der Stadtautobahn versucht hatte, die Treppe zu finden, war sie verschwunden gewesen. Der Weg war versperrt gewesen. Aber die Route vom Abstellplatz nach oben bestand noch immer. Aomame hatte geahnt, dass die Treppe aus dieser Richtung noch zugänglich war. Ich habe das Kleine , dachte sie. Vielleicht verleiht es mir besondere Kräfte, beschützt mich und weist mir den Weg.
    Die Treppe ist da. Aber wir wissen nicht, ob sie am Ende wirklich mit der Stadtautobahn verbunden ist. Vielleicht ist sie in der Mitte blockiert, und wir enden in einer Sackgasse. Auf dieser Welt ist alles möglich. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mit meinen eigenen Armen und Beinen hinaufzusteigen und mich mit eigenen Augen zu überzeugen, ob dort etwas ist – oder nicht.
    Vorsichtig stieg sie Stufe für Stufe hinauf. Wenn sie nach unten schaute, sah sie Tengo direkt hinter sich. Mitunter heulte der Wind auf und riss wie wild an ihrem Frühjahrsmantel. Ihr kurzer Rock war ihr bis über die
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