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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3
Autoren: Haruki Murakami
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menschlichen Herzens die Zeit in etwas Relatives verwandelten. Zwanzig Jahre waren eine lange Zeit, in der eine Menge geschehen konnte. Vieles entstand, und vieles verschwand. Auch die Dinge, die blieben, veränderten sich. Eine sehr lange Zeit. Nicht zu lange jedoch für zwei Herzen, die füreinander bestimmt waren. Auch wenn bis zu ihrer nächsten Begegnung wieder zwanzig Jahre vergehen würden, würde er Aomame die gleichen Gefühle entgegenbringen wie jetzt. Dessen war Tengo sich ganz sicher. Und wären sie beide fünfzig gewesen, hätte ihr Anblick sein Herz ebenso höher schlagen lassen, und er wäre genauso verwirrt gewesen wie jetzt. Genauso froh und seiner Sache genauso sicher.
    Tengo sprach diese Dinge nicht aus, er dachte sie nur. Er wusste, dass Aomame seinen unausgesprochenen Worten aufmerksam zuhörte. Sie hielt ihr kleines rosa Ohr an seine Brust gedrückt und lauschte, was in seinem Herzen vor sich ging. Wie jemand, der, wenn er mit dem Finger die Landkarte entlangfährt, herrliche, lebendige Landschaften vor sich sieht.
    »Am liebsten würde ich für immer hierbleiben und die Zeit vergessen«, sagte Aomame leise. »Aber es gibt etwas, das wir tun müssen«.
    Wir gehen fort, dachte Tengo.
    »Ja, wir gehen fort«, sagte Aomame. »Je schneller, desto besser. Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Aber ich kann dir nicht mit Worten erklären, wohin wir gehen.«
    Worte sind nicht nötig, dachte Tengo.
    »Du willst nicht wissen, wohin wir gehen?«, fragte Aomame.
    Tengo schüttelte den Kopf. Die Winde der Realität hatten die Flamme in seinem Herzen nicht ausgeblasen. Nirgends gab es etwas Wichtigeres, etwas von größerer Bedeutung.
    »Wir werden uns nie wieder trennen«, sagte Aomame, »das steht fest. Uns nie wieder loslassen.«
    Neue Wolken kamen und verdeckten allmählich die Monde wie ein lautlos fallender Vorhang, und die Schatten, die die Welt umfingen, vertieften sich.
    »Wir müssen uns beeilen«, flüsterte Aomame. Sie erhoben sich von der Rutschbahn. Ihre Schatten verschmolzen zu einem. Sie hielten sich an den Händen wie zwei Kinder, die durch einen tiefen, finsteren Wald irrten. »Wir verlassen die Stadt der Katzen«, war das Erste, was Tengo laut sagte. Liebevoll lauschte Aomame dieser neuen Stimme.
    »Die Stadt der Katzen?«
    »Es ist eine Stadt, die am Tag von tiefer Einsamkeit und in der Nacht von großen Katzen beherrscht wird. Sie liegt an einem hübschen Fluss, über den eine alte Steinbrücke führt. Aber sie ist kein Ort, an dem wir uns aufhalten sollten.«
    Jeder von uns hat seinen eigenen Namen für diese Welt , dachte Aomame. Ich nenne sie »1Q84«, und Tengo nennt sie »die Stadt der Katzen«. Aber die Namen bezeichnen dieselbe Sache. Sie drückte Tengos Hand noch fester.
    »Ja, wir verlassen die Stadt der Katzen. Wir beide zusammen«, sagte Aomame. »Wenn wir sie einmal verlassen haben, werden wir uns nie mehr trennen, weder am Tag noch in der Nacht.«
    Als die beiden aus dem Park eilten, waren der große und der kleine Mond noch hinter den gemächlich dahinziehenden Wolken verborgen. Die Augen der Monde waren bedeckt. Und der Junge und das Mädchen liefen Hand in Hand in den Wald.

Kapitel 30
    Tengo
    Wenn ich mich nicht irre
    Als sie aus dem Park kamen, hielten sie auf der Hauptstraße ein Taxi an. Aomame erklärte dem Fahrer, dass sie über die Nationalstraße 246 nach Sangenjaya wollten.
    Erst jetzt fiel Tengo auf, wie Aomame gekleidet war. Sie hatte einen hellen, für die Jahreszeit viel zu dünnen Frühjahrsmantel an, den sie vorn zugebunden hatte. Darunter trug sie ein schmal geschnittenes grünes Kostüm mit einem kurzen, engen Rock. Die Strümpfe und die eleganten hohen Schuhe sahen sehr gut dazu aus. Über ihrer Schulter hing eine schwarze Ledertasche, die recht voll und schwer zu sein schien. Handschuhe oder einen Schal hatte sie nicht dabei. Auch keinen Ring, keine Kette und keinen Ohrschmuck. Sie roch nicht nach Parfüm. Alles an ihr wirkte in Tengos Augen sehr natürlich. Ihm fiel nicht eine Sache ein, die gefehlt hätte oder überflüssig gewesen wäre.
    Das Taxi fuhr von der Ringstraße 7 in Richtung Nationalstraße 246. Der Verkehr floss ungewöhnlich reibungslos. Noch lange nachdem das Taxi losgefahren war, schwiegen sie. Das Radio war ausgeschaltet, und der junge Fahrer war ein schweigsamer Zeitgenosse. Nur das unablässige monotone Rauschen der Reifen war zu hören. Aomame saß dicht neben Tengo und hielt weiter seine große Hand, als würde sie sie niemals
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