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197 - Der Geist im Kristall

197 - Der Geist im Kristall

Titel: 197 - Der Geist im Kristall
Autoren: Mia Zorn
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großen merkwürdigen Vogel, der ihre Flugbahn kreuzte: Er zog langsam, aber stetig in Richtung Gebirge. Von seinem mächtigen blau-roten Körper hing an Tauen befestigt ein großer ovaler Kasten. Er war aus Holz und besaß Fenster.
    Hinten am Kasten spuckte ein klobiges Gebilde Dampfschwaden aus und drehte sich ein stählerner Schwanz pausenlos um die eigene Achse.
    Die Rabenvögel krächzten aufgeregt. Das Ding war ihnen unheimlich. Es machte einen grässlichen Lärm und erinnerte sie an ein Menschennest aus den entlegenen Städten. Als schließlich noch ein zähnefletschender Lupa hinter einem der Fenster erschien, stoben die Kolks auseinander und nahmen schreiend Reißaus.
    Der Lupa, eine Wölfin, schaute ihnen sehnsüchtig nach. Sie ließ ihre Zähne unter den Lefzen verschwinden und drückte ihre feuchte Schnauze gegen das Glas. Viel zu lange schon war Chira in der engen Gondel der PARIS unterwegs.
    Wahrscheinlich vermisste sie den Geruch von Erde und Pflanzen und die Freiheit, die ein Wald oder eine Wiese ihr boten. Missmutig drehte sie ihren Schädel mit den doppelten Zahnreihen ins Innere der Gondel.
    Durch die Ritzen der Wandung pfiff ein eisiger Wind. Ein Kupferbügel zum Festhalten umsäumte den gesamten Innenraum. Von der Decke hingen Körbe, Fellbeutel und Ledersäcke. Seitlich vor dem Cockpit blinkten die Kontrollinstrumente von der Armaturentafel über dem Brenner.
    Die gepolsterte Sitzbank daneben war leer. Gegenüber klapperte die Tür eines Wandschranks. In der Mitte des Raumes waren ein roter Sessel und ein Kartentisch mit dem Boden verschraubt. Auf der runden Holzplatte lagen Landkarten, ein Fernrohr und ein großer Kompass.
    Alles Dinge, mit denen die Lupa nichts anfangen konnte.
    Viel mehr interessierte sie der Beutel, der neben einer Öllampe über dem Tisch hin und her schaukelte: ein engmaschiges Netz, gestopft mit Flaumfedern und Fellresten. Das Nest von Titana, einer winzigen Fledermaus, die für die Lupa die einzige Abwechslung auf dieser eintönigen Reise war. Aber Titana ließ sich schon seit Tagen nicht mehr blicken. So blieben nur noch die drei Menschen, mit denen die Lupa das Luftschiff teilte.
    Einer der Menschen rief leise ihren Namen und klopfte neben sich auf den Boden. »Komm her, Chira!«
    Die junge Lupa löste ihre Vorderpfoten vom Fensterrahmen und warf ihrem Herrn einen vorwurfsvollen Blick zu. Der weißhaarige Albino saß auf einem Lager aus Decken und Fellen, das auf dem Boden im hinteren Teil der Gondel ausgebreitet war. Aus seinen roten Augen schaute er sie erwartungsvoll an.
    Doch Chira wollte nicht. Mit erhobener Nase trottete sie an ihm vorbei zur Mitte der ungeliebten Behausung. Ihr schwarzer Körper streifte den Polstersessel und verschwand schließlich unter dem runden Kartentisch.
    Rulfan reagierte mit einem Lächeln auf das beleidigte Verhalten seines Lupas.
    Seit sie vor zwei Wochen ihre Reise zum Kratersee angetreten hatten, strafte ihn Chira mit abweisenden Blicken oder tat so, als ob er Luft wäre.
    Der Mann aus Salisbury konnte es ihr nicht verdenken. Ihm gefiel die Reise genauso wenig wie seiner Lupa. Wenn auch aus ganz anderen Gründen. Einer davon war Victorius.
    Der dunkelhäutige Pilot stand regungslos am anderen Ende der fünf Meter langen Gondel. Er starrte schon seit Stunden aus dem Bugfenster. Wäre er nicht ab und zu an die Seite der Kabine gewandert, um die Instrumente zu überprüfen, wäre Rulfan nicht sicher gewesen, dass Victorius überhaupt noch lebte.
    Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete er das breite Kreuz des Mannes: Unter dem blauen Frack hoben und senkten sich die Schultern. Die rosafarbene Perücke hing schief über seinem Kopf. Gekräuselte schwarze Haarbüschel schauten darunter hervor.
    Jetzt machte er eine ruckartige Drehung nach links und stelzte hinüber zum Armaturenbrett. Er schloss das Ventil für die Sauerstoffzufuhr des Brenners und legte den handbreiten Hebel nach oben. Seine Bewegungen wirkten mechanisch.
    Kein Blick, kein Wort, keine überflüssige Regung. Wie eine Statue stand er vor den Kontrollinstrumenten. Als das Stampfen der Kolben verklungen war, stelzte er wieder zurück zum Fenster.
    Das war es dann wohl für die nächsten Stunden. Aber immerhin ein Lebenszeichen. Rulfan überlegte: Wann hatte Victorius das letzte Mal gegessen oder getrunken? Er konnte sich nicht erinnern.
    Seit ihrem Aufbruch vom Uluru hatte der schwarze Prinz aus Afra kaum ein Wort mehr gesprochen. Er schien für Nichts und Niemanden
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